© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

In der Zeit des Jahreswechsels stellen die großen politischen Magazine – sonst religiös indifferent oder religionsfeindlich – ein ums andere Mal die Gretchenfrage. Nun brachte der Focus einen zwinkernden Luther auf dem Umschlag und dann die Daten einer Erhebung zur religiösen Einstellung der Deutschen. Die Zahlen überraschen nicht, die Kirchenbindung sinkt seit fünfzig Jahren (eigentlich seit hundert) kontinuierlich, genauso wie die Bereitschaft, sich überhaupt einer definierten Glaubensform zuzuordnen. „Christlich“ in einem halbwegs präzisen Sinn ist auch nur noch eine Minderheit derjenigen, die den großen Konfessionen angehört, sonst hat man es mit einer mehr oder weniger hausgemachten Metaphysik zu tun, ein bißchen pantheistisch, ein bißchen funktionalistisch. Allerdings scheint es doch so etwas wie einen irreduziblen Rest an Religiosität zu geben. Der äußert sich vor allem in der Überzeugung, daß der Mensch ein beseeltes Wesen sei. Fast neunzig Prozent der Befragten vertreten jedenfalls die Meinung, daß wir mehr sind als das, was zu messen, zählen, wiegen ist. Man sollte das nicht geringschätzen, angesichts des Siegeszugs der Materialismen.

Ein Grund für das Fehlen jeder Opposition liegt in der Gewitztheit der Jungen, die nicht nur die Lügen der Älteren durchschauen, sondern sie auch zum eigenen Vorteil nutzen. Der andere hat mit Erfahrungsmangel zu tun. Es wirkt sich nachteilig auf die Charakterbildung aus, wenn man nie um etwas kämpfen mußte und die Erzieher Unlusterfahrungen fernhalten.

In ihrer Weihnachtsausgabe hat die FAZ den Judaisten Matthias Morgenstern zu Wort kommen lassen, der sich unter anderem mit der Frage befaßt, wie das Judentum auf die Geburtsgeschichte Christi reagiert habe. Irritierend ist, daß Morgenstern dabei zwar auf den Talmud hinweist, der das Leben Jesu oft in „herabwürdigender und teilweise auch unappetitlicher“ Art behandle, aber dem Leser dann doch jede Klarstellung vorenthält. Wann hätte es je eine vergleichbare Zurückhaltung gegeben, wenn es um antijudaistische oder antisemitische Darstellungen geht? Immerhin erwähnt Morgenstern seinen Kollegen Peter Schäfer, der das „Gegen-Evangelium“ des Talmud folgendermaßen rekonstruiert hat: Jesus ging aus der Liebschaft zwischen seiner Mutter und einem Heiden mit Namen Pantera hervor, Maria war aber auch sonst für ihre Sittenlosigkeit bekannt; der Sohn wandte sich nach Ägypten und erlernte dort schwarzmagische Künste, schloß sich äußerlich den Gesetzeslehrern an, fiel aber durch Ungehorsam und sexuelle Zügellosigkeit auf, wurde zuletzt wegen seiner Häresie vor das Religionsgericht gestellt, nach jüdischem Recht zum Tode verurteilt und gesteinigt; da er Israel vom wahren Glauben abbringen wollte, muß Christus zusammen mit den anderen Erzfeinden Israels – Bileam und Titus – auf ewig in der Hölle bleiben und liegt in siedenden Exkrementen. – Übrigens hat Michael Wolffsohn bei Gelegenheit angemerkt, Schäfer sei nach Princeton gegangen, weil man in Deutschland nicht ungehindert als Judaist arbeiten könne.

„Dennoch möchte ich behaupten, daß die traditionelle linke Rhetorik heute nicht zufällig bei dem Gegenteil von dem gelandet ist, was ihre Ahnen – zu Recht oder nicht – für etwas Schlimmes erachteten: Beim Vorurteil, das so mächtig ist, daß es alle Erfahrung, alles Neue, Verwirrende und Querliegende mit großer Präzision vom Tische fegt. Diese Linke ist inzwischen ein Garant des Immobilismus und eines juste milieu, das sich lauttönend als ‘anders’ präsentiert und doch nur wildgewordenes Ressentiment ausdrückt und organisiert“ (Thomas Schmid, 1983, damals Redakteur von Wagenbachs Freibeuter, heute Chefredakteur von Welt und Welt am Sonntag).

Etwas außerhalb der üblichen Beschäftigung mit dem Glaubensleben der Deutschen liegt das Titelthema von Spektrum der Wissenschaften. Da hat man einen Soziobiologen und einen Religionswissenschaftler zum Argumentationsturnier antreten lassen. Das Ganze ist interessant, auch wenn dem, der die Debatte verfolgt, wenig neues geboten wird. Entscheidend aber – und in vielem typisch deutsch – bleibt die defensive Haltung desjenigen, der eigentlich den Glauben offensiv verteidigen müßte, und die Feigheit des Naturwissenschaftlers angesichts der notwendigen Konsequenzen aus seiner eigenen Argumentation. Das gilt vor allem für die These, daß Theologie als „Lebenslüge“ immerhin für das Individuum „psychohygienisch“ nützlich sei, während sie mit „Wissenschaft“ nichts zu tun habe. Dahinter steht die – bei Positivisten nicht unübliche, aber trotzdem groteske – Idee, daß sich die moderne Welt von selbst stabilisiere, weil das Humanum als Ergebnis der Evolution gelernt habe, ohne die traditionellen Institutionen und Überzeugungen auszukommen. Eine erstaunliche Auffassung, wenn man sie bei Menschen antrifft, die Rationalität in Anspruch nehmen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. Januar in der JF-Ausgabe 4/12.

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