© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Lockerungsübungen
Nicht reif für Europa
Karl Heinzen

Kurz vor Weihnachten ist der ehemalige französische Staatspräsident Jacques Chirac von einem Pariser Gericht zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren Haft verurteilt worden. Er wurde für schuldig befunden, in seiner Amtszeit als Bürgermeister der Hauptstadt zu Beginn der 1990er Jahre öffentliche Gelder in großem Stil veruntreut zu haben. Auf der Grundlage von Scheinverträgen seien eine Vielzahl von Personen von der Kommune bezahlt worden, hätten jedoch in Wahrheit entweder für seine Partei, seine persönliche Wahlkampfkampagne oder mitunter auch überhaupt nicht gearbeitet.

Die Vorwürfe sind keineswegs neu, sie wurden bereits erhoben, als Chirac noch als Staatspräsident amtierte. Seinerzeit war er jedoch vor Strafverfolgung geschützt. Auch wenn der Ruheständler Immunität nun nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann, werten die französischen Medien das gegen ihn ergangene Urteil als sensationell. Seine Verfehlungen scheinen sie hingegen nicht als außergewöhnlich zu betrachten.

Mit dieser Einschätzung liegen sie vermutlich richtig. Die politischen Eliten Frankreichs, gleich welcher Provenienz, leiten aus ihrer demokratischen Legitimation den Anspruch ab, sich über das Recht stellen und den Staatsapparat für persönliche Zwecke einsetzen zu dürfen, wo sie es für geboten halten. In der Regel folgen sie dabei dem für die Bürger transparenten und von diesen daher akzeptierten Motiv der persönlichen Bereicherung. Die Grenze zur Schwerkriminalität wird nur ausnahmsweise und dann auch bevorzugt im Rahmen politischen und wirtschaftlichen Auslandsengagements überschritten – hierin unterscheidet sich Frankreich noch markant von anderen Demokratien in der EU.

Allerdings dürften manche Verständnisschwierigkeiten mit Deutschland ihren Grund in dieser Eigentümlichkeit der französischen politischen Kultur haben. In Paris ist es kaum nachvollziehbar, wie kompliziert und formalistisch an rechtsstaatliche Prozeduren gebunden in Berlin Entscheidungen getroffen werden. Ein Land, in dem Politiker aufgrund günstiger Hausfinanzierungskredite, zusammenkopierter Doktorarbeiten oder vermeintlicher Fahrerflucht nach der Beschädigung eines Außenspiegels in Mißkredit geraten, muß den Franzosen als nicht reif für Europa erscheinen. Hier haben sie sicher recht.

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