© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Den entscheidenden Schritt wagte er nicht
Publizistik: Karl Heinz Bohrer verabschiedet sich von der Zeitschrift „Merkur“ – seine Gesellschaftskritik wirkt bereits überholt
Thorsten Hinz

Nach 28 Jahren hat der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer sich als Herausgeber der Monatszeitschrift Merkur verabschiedet. Das ist so verständlich – Bohrer wird im September achtzig –, wie es einen Einschnitt bedeutet. Der Merkur war kein wirklicher Gegenentwurf zur seichten Kultur- und politischen Publizistik der Bundesrepublik, aber wenigstens hob er sich von ihr ab. Den größten Anteil an seiner relativen Sonderstellung hatten die Aufsätze, die Bohrers Feder entstammten. Von der berüchtigten, konsensualen Debattenkultur entfernte er sich am weitesten mit den Glossen zum bundesdeutschen Provinzialismus, die 1990/91 erschienen. Den Anlaß dazu lieferte das juste milieu, dem die Unlust an der Wiedervereinigung aus den Kopflöchern quoll. Ausgehend von Beobachtungen aus Politik, Kultur und Alltagswelt zeichnete Bohrer mit scharfen Strichen eine bundesdeutsche Mentalitätsgeschichte.

Er glossierte die Neigung, politische Fragen – einschließlich die über Krieg und Frieden – in einem weinerlichen Moralismus zu ertränken, spottete über die Biederkeit der Werbung, mit der die Deutschen sich und der Welt ihre Harmlosigkeit zur Schau zu stellten, und sezierte die Sprache, Physiognomien und das Wohnambiente der deutschen Politiker. Er eröffnete den Blick in die Schreckenskammer der ästhetischen und politischen Anspruchslosigkeit – des Provinzialismus eben! In der bundesdeutschen Europatrunkenheit – die sich inzwischen zur „Weltoffenheit“ gesteigert hat – erkannte er die – nur scheinbar geläuterte – Mentalität des größenwahnsinnig gewordenen Pauschaltouristen, der bei Pizza und Paella kennerisch mit der Zunge schnalzt und meint, damit über Kultur und Geschichte, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Nationen hinreichend Bescheid zu wissen.

Bei aller Lust am scharfen Wort ist Bohrer jedoch immer Bundesrepublikaner geblieben, der den entscheidenden Schritt nicht wagte. Die machtpolitischen Grundlagen, auf denen der Provinzialismus gedieh, also die politisch-historischen Grundtatsachen, auf denen die Bundesrepublik beruht, hat er allenfalls mal gestreift, doch nie in Frage gestellt. Er dekretierte sogar: „Die bedingungslose (!) Verteidigung Israels ist kein rechtliches, sondern ein politisches Prinzip.“ Eine politische Begründung? Gibt es nicht!

Das Wort „bedingungslos“ muß in diesem Zusammenhang als eine freud-sche Fehlleistung gewertet werden, in der die Erinnerung an die „unconditional surrender“ aufblitzt, auf der auch Bohrers politisches Denken letztlich beruht. Dessen Begrenztheit wird erst auf den zweiten Blick deutlich, etwa, wenn man sie mit Provinzialismus-Kapiteln aus Friedrich Sieburgs Klassiker „Lust am Untergang“ (1954) vergleicht, den Bohrer rezipiert, teilweise adaptiert hat, ohne ihn beim Namen zu nennen.

Bei Sieburg wie bei Bohrer finden sich ätzende Anmerkungen zur Geheimnislosigkeit der deutschen Schauspieler nach 1945, über das Fehlen einer hintergründigen Dimension in ihren Gesichtern. Zu Recht erkennt Bohrer darin einen Mangel an individueller Risikobereitschaft und zieht eine Parallele zur Politikflucht der Politiker. (Heute wäre hinzuzufügen, daß Betroffenheitsgesichter à la Maria Furtwängler in der ARD-Produktion „Die Flucht“ Ausdruck eines ideologischen Konformismus sind.) Er stellt weiter fest, daß der (west-)deutsche Film in diese eindimensionale Expressivität erst nach dem Zweiten Weltkrieg verfallen ist. Bezeichnenderweise unterläßt er es, nach den Gründen dafür zu fragen.

An dieser Stelle zeigt sich, daß der literarisch ambitionierte Sieburg politisch präziser dachte und argumentierte als der Geisteswissenschaftler Bohrer. Für Sieburg nämlich hängt die ästhetische Regression unmittelbar mit den politischen und materiellen Voraussetzungen der Kunstproduktion zusammen, mit der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Zerschlagung der Filmindustrie und der Regionalisierung des Kulturbetriebs, der sich dazu noch fest im Griff konkurrierender politischer Parteien befand. „Im Bundesgebiet entwickelt sich ein Rundfunk-Föderalismus, der darauf abzielt, das den deutschen Stämmen gemeinsame Kulturgut zugunsten der sogenannten Kulturlandschaften einzuengen ...“. Die Regression auf das Heimatfilm-Niveau, die ästhetische Verzwergung korrespondierte mit der von den Alliierten befohlenen Parzellierung des Politischen.

Schon bei Sieburg finden sich Kapitelüberschriften wie „Die Flucht nach Europa“ oder „Wir sind Provinz“. Die Bundesrepublik war ihm ein „seltsam gestrecktes Gebilde, das schlampig um eine verbogene Nordsüdachse gruppiert ist“, ein „Zweckverband“, das keine Seele und keinen Kern haben kann und den Provinzialismus als Fluchtweg erscheinen ließ. Das „entzieht unseren Manieren die Unbefangenheit, verengt den Horizont unserer außenpolitischen Einbildungskraft, verwischt unseren physischen Typ und ist schließlich an dem verlogenen Durcheinander schuld, das sich die moderne deutsche Literatur nennt“.

Bis hierher hätte Bohrer zustimmen können, doch dann schreibt Sieburg von einer „echten und berechtigten Besatzungsmüdigkeit. Sie richtet sich gegen die Tatsache, daß fremde Garnisonen Macht über unsere Lebensideale, ja über unsere Seelen gewonnen haben, und daß sie dies geschafft haben, weil sie einst mit der Waffe in der Hand gekommen sind. Vieles hätten wir von ihnen zu lernen, aber was wir gelernt haben, sind die Unarten fremder Macht und fremden Reichtumes, die wir inmitten unserer Ohnmacht und Armut willig nachgeäfft haben.“ Er sah darin einen neuen Nährboden für jenes tradierte Spießertum, das sich in der Figur des Diederich Heßling aus Heinrich Manns „Untertan“ personifiziert. Er sah voraus, daß es sich bald amerikanisch drapieren oder in der deutsch-französischen Aussöhnung tätig sein würde.

Bohrer bleibt weit hinter Sieburg zurück. Für ihn scheint kein Zweifel zu bestehen, daß die Alliierten die Freiheit, inklusive der politischen, nach Deutschland gebracht haben, die von den Deutschen nur schlecht genutzt worden ist. Den in zusätzlicher Provinzialität befangenen DDR-Bürgern wünschte er die Fähigkeit, die Amerikaner als dieselben dem Meer entstiegenen freundlichen Götter zu empfangen, die er selber 1945 in ihnen erblickte.

Angesichts des amoklaufenden Finanz- und Schuldenimperialismus der Wallstreet klingt das doppelt merkwürdig. In dem Moment, wo Bohrers Ära beim Merkur zu Ende geht, beginnt seine Gesellschaftskritik schon anachronistisch zu wirken.

Monatszeitschrift „Merkur“: Lust am scharfen Wort

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