© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Leoparden skalpieren niemanden
Indien: Im Bundesstaat Assam kommt es immer wieder zu dramatischen Begegnungen zwischen Mensch und Tier
Richard Stoltz

Leopard skalpiert Mensch!“ So tönte es vor einigen Tagen aus den Zeitungen von Guwahati, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats Assam, und der Schreckensruf raste um die Welt. „Skalpjäger Leopard“ titelte ein deutsches Boulevardblatt; so mancher Leser der Schlagzeile fragte sich zunächst, welcher Unhold sich wohl hinter diesem Namen verbergen mochte und was seine Absichten seien.

In Wahrheit ging es um die Kopfhaut eines kleinen Neubaubewohners in Guwahati, die ein leibhaftiger Leopard arg zerkratzt hatte, so daß der Mann sehr blutete. Das schöne Tier war im Vestibül des Hauses von mehreren mit Eisenstangen bewaffneten Mietern gestellt worden. Es versuchte nichts weiter, als sich zu wehren, deshalb die Attacke.

Die Leoparden wie auch andere Tiere in den Dschungeln rund um Guwahati sind aufs äußerste in ihrer Existenz bedroht. Die Stadt samt ihren neuen Autobahnen und Omnibuslinien wächst rapide in die soeben noch urtümliche Umgebung hinein. Dauernd kommt es zu unliebsamen, teils dramatischen Konfrontationen zwischen (tierischen) Ureinwohnern und (menschlichen) Neuzugängen, und wer dabei den kürzeren zieht, ist klar. Von „Skalpjägerei“ auf seiten der Leoparden jedenfalls keine Spur.

Daß die Journalisten doch alles so übertreiben müssen! Sie stiften damit nur Verwirrung, so wie hier mit dem „Skalpieren“. Das Skalpieren ist kein animalisches Verhalten, sondern eine typische menschliche „Kulturhandlung“ Es trat verstärkt ab dem 17. Jahrhundert in Nordamerika als Folge der Kämpfe zwischen indianischen „Eingeborenen“ und europäischen Neusiedlern auf. Skalpe galten als Siegestrophäen und Herrschaftstitel, man stellte sie aus und trieb auch Handel mit ihnen.

In Guwahati ist es glücklicherweise nicht so weit gekommen. Die Mieter hielten den ergrimmten Leoparden solange in Schach, bis ein Tierarzt kam und ihn betäubte. Inzwischen ist das Tier wieder in Freiheit. Denn wie sagte einst schon Indira Gandhi? „Es gibt bei uns so viele Menschen – und so wenige schöne Tiger und Leoparden.“