© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Wunder geschehen
Ausstellung in den Deichtorhallen: Von der V2 bis zum Turiner Grabtuch
Christian Dorn

Wunder gibt es immer wieder.“ Dennoch müssen sie zuweilen besungen werden, um den Glauben an sie wachzuhalten und eine entsprechende Erwartungshaltung hervorzurufen. Gerade in diesen friedlichen Zeiten in Europa scheint die Erinnerung daran ratsam, vernehmen wir doch aus Schloß Bellevue, daß es schon wieder Zeit für ein „Stahlgewitter“ sei. An dessen äußerstem Ende stand seinerzeit bekanntlich – verknappt formuliert – die Wunderwaffe V2. Auch wenn diese in erster Linie wohl das Wunder bewirken sollte, den Glauben an den „Endsieg“ aufrechtzuerhalten, war sie tatsächlich eine kollektive Meisterleistung, die langfristig Technikgeschichte schreiben sollte. diente sie doch als Vorbild für alle späteren Weltraumraketen. Der erste erfolgreiche Flug der Wunderwaffe im Jahr 1942 fiel dabei zeitlich zusammen mit Zarah Leanders beschwörendem Bekenntnis, daß „einmal ein Wunder geschehen“ werde.

In der Schau der Deichtorhallen Hamburg, die unter dem nüchternen Titel „Wunder“ steht, eröffnet eine Raketenspitze der V2 den Ausstellungsraum. In ihrer Darbietung wirkt sie wie ein archaisches Artefakt, darin ähnlich einem in Namibia aufgefundenen Meteoriten, der vor 13.000 Jahren aus dem Weltall auf die Erde stürzte. Konzipiert und zusammengeführt hat diese und etwa 150 weitere Objekte – aus den Bereichen Alltag, Kunst, Religion und Wissenschaft – das Team des Kurators Daniel Tyradellis. Dieser sorgte bereits durch frühere Projekte für Aufsehen, etwa mit dem Publikumsrenner „Schmerz“ (2007, Berlin) oder mit der Ausstellung „10 + 5 = Gott“ (2004, Berlin), in der es um die Macht der Zeichen ging. Diesmal geht es also um das Phänomen des Wunders. Aus der Sicht von Tyradellis verknüpft sich mit dem Begriff Wunder eine „Öffnung in der Welt“, es erscheint als ein Einfallstor für Innovatives, Göttliches oder Utopisches.

Die quasi ubiquitäre Utilisierung des Begriffs – vom Heilungswunder über die Wunderwaffen bis zum Busenwunder und dem sich daran anschließenden Markennamen „Wonderbra“ – ändert derweil nichts an dessen Existenz. Denn – so macht die Ausstellung deutlich – entscheidend ist nicht die wissenschaftlich-rationale Überprüfung des jeweiligen Wunders, sondern der Glaube an dieses. Überhaupt liegt das Wunder im Auge des Betrachters. So etwa im magisch strahlenden blauen Würfel vom James Turrell, der sich – bei Perspektivwechsel – als optische Täuschung erweist. Äußerst unterhaltsam sind die knapp tausend Briefe an die Bild-Zeitung, nachdem Uri Geller in einer Fernsehsendung am 21. Januar 1974 seine telepathische Kraft an Gabeln, Löffeln und Uhren demonstriert hatte. Skeptischer Kommentar einer Frau zu ihrem Begleiter: „Sag mal, ist das mal aufgeklärt worden mit dem?“ Derweil abgeklärt reagieren zwei Damen gegenüber den „Eurasienstäben“ von Joseph Beuys: „Filz, Kupfer, Wärme, blah.“

Eine Vielzahl der Exponate verweist indes – nicht zufällig – auf das Christentum, schließlich hat keine andere Religion so vehement auf das Bild und die Verkündung des Wunders gesetzt. Evident erscheint diese Verknüpfung zudem durch die Sprachwissenschaft, der zufolge das Bild und das Wunder einen gemeinsamen etymologischen Ursprung aufweisen. Ein zentrales Werk in diesem Kontext ist das von Caravaggio kopierte Motiv vom Ungläubigen Thomas (etwa 1650). Es versinnbildlicht das abendländische Paradoxon, den Glauben durch einen überprüfbaren Beweis beglaubigen zu wollen.

Zu den christlichen Motiven gehört auch die Handschrift und Zeichnung von Clemens Brentano „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“, die wiederum Mel Gibson zu seinem Film „Passion Christi“ inspirierte. Ausschnitte daraus sind in dem Video „Apocalyto Now“ (2009) von Jonathan Horowitz zu sehen.

Daß der Islam kaum vertreten ist, begründet sich in dessen Selbstverständnis. So findet sich lediglich ein Prunkkoran aus dem 18. Jahrhundert, darauf verweisend, daß aus muslimischer Sicht das einzig wahre Wunder des Islams nur der Koran selbst sei.

Im Deutschland des Jahres 2011 verkörpert sich das verbindende Element noch immer im Fifa-WM-Pokal von 1954, dem hierzulande faktisch der Status einer Reliquie zukommt. Wird doch das „Wunder von Bern“ als die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik gedeutet. Was im Großen gemeinschafts- und identitätsstiftend ist, gilt auch für die Region. So präsentieren die Aussteller den so wenig wundergläubigen Hamburgern ihr eigenes Patent von 1907 für die „Wunderkerze“.

Die Ausstellung „Wunder“ ist noch bis zum 5. Februar in den Hamburger Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 9 Euro. Telefon: 040 / 32103-0

Der Katalog mit 300 Seiten und etwa 260 Abbildungen kostet 24,80 Euro.

www.deichtorhallen.de

Foto: Der Koloß von Rhodos, das zweite Wunderwerk der Welt (Motiv für einen Guckkasten, 1760): Einfallstor für Innovatives, Göttliches oder Utopisches