© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

„Das ist Schwachsinn!“
Er gilt als das „Enfant terrible der Ernährungswissenschaft“. In Sachen gesundem Essen läßt Udo Pollmer keinen Stein auf dem anderen.
Moritz Schwarz

Herr Pollmer, ich habe heute morgen Vollkornbrot mit Biotomate und Putenwurst gegessen und seitdem zwei Liter Wasser getrunken, geht es mir jetzt besser?

Pollmer: Das weiß ich doch nicht.

Aber ich habe doch alles richtig gemacht.

Pollmer: Wie fühlen Sie sich denn?

Nun ... immerhin lese ich in Medien und Ratgebern, daß es mir damit besser geht.

Pollmer: Karl Kraus hat einmal gesagt, Journalisten sind Menschen, die Unsinn schreiben und ihn glauben, sobald sie ihn gedruckt lesen.

Moment, diese Ratschläge kommen ursprünglich von Fachleuten.

Pollmer: Von Fachleuten, die sich zum Beispiel auch Sachen wie den berühmten BMI – den Body-Mass-Index – ausdenken. Pardon, aber wer aus Körpergewicht und Körpergröße einen Quotienten errechnet, um daraus die gesundheitliche Zukunft zu weissagen, muß völlig plemplem sein. Da kann man ebenso aus dem Schädelumfang und der Körbchengröße einer Ernährungsberaterin deren Intelligenzquotienten berechnen.

Sie sagen: „Wer gesund ißt, stirbt früher.“

Pollmer: Weil „gesunde“ Ernährung heute ein Risikofaktor ist.

Das müssen Sie erklären.

Pollmer: Als ich ein kleiner Steppke war, hieß es: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft!“ Damals hätte ich den Magen eines Marders gebraucht, um die empfohlenen Fleischportionen zu verdrücken. Dann kam die Zeit, in der Körner „in“ waren. Da hätte ich einen Schnabel gebraucht zum Picken, einen Kropf zum Vorweichen oder einen Muskelmagen mit Steinchen drin, um die Körner zu mahlen. Denn inzwischen galt der Müller als Schänder des Vollwerts. Und heute bräuchte ich einen Pansen, um all das vegetarische Stroh, das in der Öffentlichkeit gedroschen wird, zu verdauen. Aber ich habe immer noch den gleichen Arsch, will sagen: Mein Verdauungstrakt hat es nicht geschafft, die grandiosen evolutionären Sprünge, die für eine solche Ernährung nötig wären und für die Mutter Natur zig Millionen Jahre gebraucht hat, innerhalb meiner Lebenszeit zu vollbringen.

Die Erkenntnis schreitet eben voran, früher dachte man, das eine sei richtig, heute weiß man es besser.

Pollmer: Würden sich die Ernährungsempfehlungen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfeinern, so wie der Wissensstand etwa in der Chemie, wäre ich zufrieden. Aber die Ratschläge heute sind ja das glatte Gegenteil von dem, was früher verzapft wurde. Wenn durch Ernährung die Gesundheit nachhaltig verbessert werden kann, müssen konträre Empfehlungen zu schweren Schäden geführt haben. Da frage ich mich, wer entschädigt eigentlich die Opfer dieses boshaften Treibens?

Nochmal Herr Pollmer, es ist doch nicht so selten, daß es in der Wissenschaft zu Kehrtwenden kommt.

Pollmer: Sicher, wenn die Vorstellung aufgegeben werden muß, daß die Erde platt wie ein Pfannkuchen ist. Dieses böse Erwachen steht der Branche noch bevor. Macht es Sie nicht stutzig, daß seit fünfzig Jahren die halbe Welt abgespeckt wird und der Erfolg ist gleich Null? Ach was, die werden alle fetter! Entweder „funktionieren“ Hunderte von Millionen Frauen nicht oder die Theorien sind stockfalsch – suchen Sie sich was Hübsches aus.

Sie gehen noch einen Schritt weiter und sagen, moderne Ernährungsempfehlungen seien zum Teil gar „gesundheitsschädlich“.

Pollmer: Richtig! Nehmen Sie etwa den Ratschlag, ständig zu trinken, so ein Klassiker, den kennen Sie sicher?

Man soll trinken, bevor man Durst hat.

Pollmer: Genau und wahrscheinlich gehen Sie auch pinkeln, bevor Sie müssen. Diese ganze Trink-Empfehlung hat nur einen Zweck: die Intelligenz der Menschen zu testen. Wenn Sie heute in ein Büro gehen und Sie sehen neben jedem zweiten PC ein angenuckeltes Fläschchen stehen, dann sollten Sie alle Hoffnung fahren lassen.

Äh ... neben meinem Rechner steht auch eine Wasserflasche.

Pollmer: Vergessen Sie nicht lieber Herr Schwarz, die intellektuelle Leistungsfähigkeit nimmt mit dem forcierten Wassertrinken ab. Aber bekanntlich gilt das ständige Wassertrinken in vielen Redaktionen als Nachweis journalistischer Kompetenz. Nun, wenn es irgendwann dazu nicht mehr reicht – dann steht Ihnen ja noch eine Karriere als Ernährungsberater offen!

Herr Pollmer, das viele Wasser brauchen wir, um Schadstoffe auszuspülen. Zum Beispiel das ganze Eiweiß aus unseren Nieren, wegen unserer proteinlastigen Ernährung mit viel Fleisch- und Milchprodukten.

Pollmer: So ein Schwachsinn! Flüssigkeiten laufen doch nicht einfach durch den Körper und am Ende wird die Spülung gezogen, damit alles sauber wird. Sondern das sind aktive Stoffwechselvorgänge, die nach physiologischen Prinzipien ablaufen. Um Flüssigkeit ausscheiden zu können, brauchen Sie Natrium, also Salz. Deshalb hat man, wenn man mehr Salz ißt, auch mehr Durst. Wenn Sie aber viel trinken und sich obendrein salzarm ernähren, kann der Körper das Wasser nicht mehr ausscheiden und es kommt irgendwann zu einem Lungen- oder Hirnödem, und das ist Ihr Tod.

Es sterben Leute am Wassertrinken?

Pollmer: Das ist gar nicht so selten. In Fachpublikationen mangelt es nicht an Berichten über Wasservergiftungen, wie das fachsprachlich heißt. Suchen Sie mal in den wissenschaftlichen Datenbanken nach „water intoxication“ oder „hyponatremia“. In Skandinavien werden die Ärzte mit Artikeln wie „Wasser ist ein gefährliches Gift“ auf die lebensbedrohlichen Folgen dieses Ratschlags hingewiesen. Ernährungsberatung ist nun mal ein Spiel mit dem Tod.

Und was ist mit der verbreiteten Warnung: „Nicht so viel Salz, sonst Bluthochdruck!“

Pollmer: Auch hier ist die wissenschaftliche Datenlage eindeutig – seit den Forschungen der Medizinprofessoren Luft, Berlin, und Stumpe, Bonn: Sie haben gezeigt, daß zwei Drittel der Bevölkerung auf eine Veränderung der Salzzufuhr in Sachen Blutdruck gar nicht reagiert. Bei einem Sechstel sinkt er und bei dem restlichen Sechstel steigt er. Aber bei allen drei Gruppen steigt bei salzarmer Kost das LDL-Cholesterin, die Harnsäure und das Nüchterninsulin. Mit dem Ratschlag, weniger Salz zu essen, schafft man sich neue Patienten – das rechnet sich.

Das ist das Gegenteil von allem, was sonst gesagt wird. Warum aber hören wir das nur von Ihnen, Herr Pollmer?

Pollmer: Da fragen Sie mal Ihre vielen wassertrinkenden Kollegen.

Die schreiben es, wie gesagt, weil die Experten es sagen.

Pollmer: Ja – bei Google. Wenn alle sagen, die Sonne dreht sich um die Erde, dann muß das wohl so sein. Der Teufel scheißt eben immer auf den größten Haufen – und da bedient sich die Branche. Ich bin beileibe nicht der einzige, der das sagt. Schauen Sie doch mal in die Fachpresse, gehen Sie in eine Fachbibliothek. Sie werden staunen!

Warum sollte etwa die DGE, die Deutschen Gesellschaft für Ernährung, die Verbraucher mit falschen Tips versorgen?

Pollmer: Die haben jahrzehntelang verbreitet, Kaffee sei ein Flüssigkeitsräuber. Da trinkt jemand schwarzes Wasser und beklaut sich dabei um die darin enthaltene Flüssigkeit? Geht’s noch blöder? Je mehr man die Menschen in Sachen Ernährung verscheißert, desto desorientierter werden sie, und desto wichtiger werden Organisationen, deren zahlreiche „MitgliederInnen“ ihnen endlich neue Ratschläge erteilen.

Mit Verlaub, das klingt nach einer Verschwörungstheorie.

Pollmer: Aha, wenn in der Fachpresse das Gegenteil von dem steht, was die Publikumspresse schreibt, dann handelt es sich Ihrer Ansicht nach also um eine Verschwörungstheorie? Tja, dann sollte man vielleicht die verschwörerische Fachpresse einfach abschaffen!

Konkret?

Pollmer: Jede überraschende Kritik kann man heute mit der Autistenphrase „Verschwörungstheorie“ vom Tisch wischen, ohne auch nur ein Argument vorzubringen. Die Mehrheit ist des Rechtes Probe nicht – und der Wahrheit Probe schon gar nicht. Darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Die vielen dubiosen Tips schaffen neue Probleme und damit neuen Umsatz. Das was ich sage, erspart den Menschen unnötige Ängste, unnötige Ausgaben und unnötige Quälereien. Wer sollte sich dafür schon einsetzen?

Langsam wird klar, warum Sie der Deutschlandfunk das „Enfant terrible der deutschen Ernährungswissenschaft“ nennt.

Pollmer: Da fühle ich mich doch geehrt. Danke schön.

Etliche Ernährungswissenschaftler distanzieren sich von Ihnen.

Pollmer: Das will ich auch hoffen, die handeln doch in Notwehr, wenn sie mich nur sehen.

Gleichwohl findet man Sie auf der Liste „Deutschlands wichtigste Vordenker“ der Zeitschrift „Cicero“ unter den vierzig prominentesten Naturwissenschaftlern.

Pollmer: Und das ist kein Umfrageergebnis unter Journalisten oder Ernährungstussen – da wäre ich nie in die Liste geraten –, sondern das Ergebnis einer computergestützten Analyse von Fachpresse und Leitmedien.

Sie sagen, wir haben es auch bei der Ernährung mit Political Correctness zu tun.

Pollmer: Stimmt genau.

So schlimm kann diese aber nicht sein.

Pollmer: Wieso?

Sonst wären Sie ja nicht immer wieder im Fernsehen zu sehen, hätten nicht eine eigene Kolumne im Deutschlandradio, würden nicht immer wieder von der Presse um Interviews angefragt und könnten nicht ein Buch nach den anderen veröffentlichen.

Pollmer: Ich sage Ihnen, in Sachen Ernährung haben wir es eindeutig mit quasireligiösen Vorstellungen zu tun. Und gar nicht so selten werden Interviews mit mir dann gar nicht gedruckt oder – obwohl autorisiert – nachträglich sinnentstellend verfälscht. Es ist manchmal nicht zu fassen!

Gut, aber kokettieren Sie nicht auch ein wenig mit dem Tabubruch?

Pollmer: Wie kommen Sie denn darauf?

Sie bieten während eines Interviews gerne mal provokativ ein dickes Stück Torte an oder lassen sich demonstrativ beim Verzehr einer Tafel Schokolade fotografieren.

Pollmer: Seit wann ist der Verzehr von Schokolade ein Tabubruch? Ja, im Mittelalter gab es mal so eine Regel in der katholischen Kirche. Es ist, so hoffe ich doch, inzwischen gängige Praxis bei Ihren Lesern. Und weitgereisten Journalisten was Nahrhaftes anzubieten, gehört zu meinen Pflichten als Gastgeber.

Was meinen Sie mit „quasireligiösen Vorstellungen“?

Pollmer: Die Vorstellung, wer sich „natürlich“ ernährt, wird davon „gesund“.

Sie meinen, so eine Art Rousseauismus?

Pollmer: So in der Art, weit weg von der „Denaturierung“ – auch so ein Propagandawort – der Nahrung durch die böse Industrie. Sie können von korrekt zubereiter Speise satt werden, sie können auch dank einer liebevollen Zubereitung davon zufrieden sein. Aber „gesund“ ist eine religiöse Kategorie wie „fromm“ oder „heilig“. Denken Sie etwa an das Glaubensbekenntnis „Vollkorn“.

Was ist falsch am Vollkorn?

Pollmer: Unser Darm ist dafür gar nicht ausgelegt. Vollkorn können nur bestimmte Nahrungsspezialisten wie Wiederkäuer verdauen, die einen völlig anderen Verdauungstrakt haben als wir. Das meiste, was als „Vollkorn“ angeboten wird, ist eh was anderes, sonst könnten wir es nicht verdauen. Meist kaufen wir einfach was schön Dunkelbraunes. Doch das Dunkle ist ein Hinweis, daß es kein Vollkorn ist. Denn das ist nicht braun, sondern eher hellgrau.

Sie meinen also, Küche und Müllers Mühle gehören quasi zu unserem Verdauungsapparat?

Pollmer: Jetzt ist bei Ihnen der Groschen gefallen! Der Mensch ist mit seinem harmlosen Beißwerkzeug und seinem kurzen Dickdarm auf zubereitete Nahrung angewiesen: Auf eine Verminderung des Ballaststoffanteils. Die „gesunde Kost“ geht dagegen gegen die „Natur“ des Menschen. Nehmen Sie doch mal die angeblich vorbildliche mediterrane Ernährung. Und wie essen die Leute rund ums Mittelmeer? Sie essen vor dem Zubettgehen, trinken nicht wenig Alkohol, genießen nur Weißbrot und bestimmt kein Vollkorn! Das Gemüse ist mausetot gekocht und schwimmt im Fett. Salzige Häppchen sind dort ebenso normal wie ein höherer Pro-Kopf-Fleischkonsum als bei uns.

Also, dann ist mediterran der richtige Weg?

Pollmer: Ach was, das Geheimnis der angeblich so vorteilhaften Mittelmeerkost liegt in der Statistik. Die Lebenserwartung eines Landes hängt naturgemäß vom Rentenbetrug ab. Je später Sterbefälle aktenkundig werden, desto länger wird die Rente bezahlt. Diese Daten korrelieren dann Ernährungsmediziner mit Olivenöletiketten oder Schätzungen des Tintenfischverzehrs. Auf Kreta leben die Menschen doch nicht länger, die kriegen nur länger Rente.

Nun gut, aber was empfehlen Sie dann? Was ist richtig? Wie essen wir korrekt?

Pollmer: Irgendwie muß ich mich doch falsch ausgedrückt haben.

Was meinen Sie?

Pollmer: Vielleicht fragen Sie mich noch, wie Sie „richtig“ Pipi machen, oder „korrekt“ Sex?

Sie meinen, der Fehler liegt in der Frage?

Pollmer: Bingo!

 

Udo Pollmer „Was er sagt, vaporisiert alles, was man bisher über Ernährung zu wissen glaubte“, schreibt die Schweizer Weltwoche über ihn. Entsprechend unbeliebt ist Udo Pollmer bei vielen Gesundheitsexperten, die ihm gerne vorwerfen, von Haus aus Chemiker und nicht Ernährungswissenschaftler zu sein. Erstmals sorgte Pollmer 1982 mit seinem Buch „Iß und stirb“ für Aufsehen, seitdem wächst sein Publikum beständig. Seine Auftritte in Radio, Fernsehen und Presse sind mittlerweile zahllos. Im Deutschlandradio Kultur hat er eine wöchentliche Kolumne („Mahlzeit“). Inzwischen bringt er es auf über ein Dutzend Bücher, etwa: „Wer gesund lebt, ist selber schuld. Was uns die Gesundheitsapostel verschweigen“ (2010). Pollmer, geboren 1954 bei Stade, leitet zudem das von ihm gegründete „Europäische Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften“ (EULE e.V.).

Foto: Weizenfeld: „Ich sage, in der Ernährung haben wir es eindeutig mit quasireligiösen Vorstellungen zu tun. Denken Sie nur etwa an das Glaubensbekenntnis ’Vollkorn’ .“

 

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