© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Aus der Traum
Libyen: Streitende Milizen bedrohen den instabilen Frieden und die Macht der Übergangsregierung
Billy Six

General Jussef Mangusch ist um seinen Job nicht zu beneiden. Der frisch ernannte Generalstabschef der libyschen Armee soll die schwer bewaffneten Milizen im Land entwaffnen. Wie hoffnungslos das Unterfangen ist, zeigen die schweren Gefechte nahe der Hauptstadt am vergangenen Sonntag. Seit Monaten ringen die schwer bewaffneten irregulären Truppen um Macht und Einfluß. Vereint sind die meisten der siegreichen Revolutionäre nur noch in ihrem Haß auf Muammar al-Gaddafi.

Kein Wunder also, wenn die neuen Machthaber darum bemüht sind, das alte Feindbild am Leben zu erhalten. Unerklärliche Gewaltausbrüche werden auf die „Tabhur Hams“, die Fünfte Kolonne der Gaddafi-Nostalgiker, zurückgeführt. Frühere Regierungsanhänger sollen an den Wahlen im Sommer nicht teilnehmen dürfen. Und auch die Zentralbank der Übergangsregierung setzt den Kampf gegen den toten Ex-Dikator fort: Etappenweise sollen jetzt alle Geldscheine mit Gaddafis Konterfei aus dem Verkehr gezogen werden.

Was nach konsequenter Fortschreibung der Revolution aussieht, hat seine politische Schattenseite: Die Figur Gaddafi einte Freund wie Feind. Die Rebellenallianz von einst splittert derzeit jedoch auseinander. Die Inhalte der geplünderten Waffenarsenale sind längst im gesamten Land verteilt. Am 3. Januar kam es in einer Geschäftsstraße der Hauptstadt zu einer offenen Schießerei zwischen Milizen. Sechs Kämpfer sterben. Der Vorsitzende der Übergangsregierung, Ex-Justizminister Mustafa Abdul Dschalil (59), äußert sich düster: „Entweder wir gehen strikt gegen Übergriffe vor und führen die Libyer in eine militärische Konfrontation oder wir spalten uns, und das heißt Bürgerkrieg.“ Zu Beginn des Aufstandes hieß es in Bengasi noch freudig: „Wir sind ein Land.“ Konflikte zwischen den rund 140 Familienstämmen seien ein „Relikt der Vergangenheit“. Ehrenamtliches Engagement der kleinen Leute sorgte für eine extrem positive Stimmung. Toleranz zwischen den Religionen und Freundschaft mit dem Westen wurden damals großgeschrieben. Freiheit lag in der Luft. Mittlerweile ist die Mittelmeerpromenade von Bengasi, Hochburg der Protestbewegung, verwaist. Nachts tummeln sich hier nur noch Drogenabhängige und Bewaffnete. Die Masse der Menschen versucht sich an der Bewältigung des Alltags – auf der Suche nach einem Platz im neuen Libyen.

Immerhin: Der gesamte Osten ist friedlich geblieben. Vor allem dank des gereiften Gesellschaftsgefüges, eines breiten Konsenses der konservativen Familienstämme und der islamischen Geistlichkeit. Zu verlieren hat vor allem die Mehrheit im Westen Libyens – unter Gaddafi besonders gefördert mit Hilfe der Öl-Milliarden. Die Entfernung des alten Regimes durch den Nato-Einsatz hat hier tatsächlich ein Vakuum hinterlassen. Gefüllt haben es auch Rebellen aus anderen Teilen des Landes. Darunter viele ungebundene, teils haschischrauchende Heißsporne. Bodenständige Familienväter unter den Kämpfern ziehen es oftmals vor, die Heimatregion zu sichern.

Bemerkenswert bei allen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der neuen Ordnung ist, daß immer wieder Milizen aus der Mittelmeerstadt Misrata beteiligt sind. In der alten Sklavenhändler-Metropole konzentrieren sich Industrie und Geld. Über 100 bewaffnete Einheiten stammen von hier – ein Spitzenwert. Und nicht wenige werden von schwerreichen Paten finanziert, die es bereits unter Gaddafi zu Reichtum gebracht haben. Vielleicht wird ein vorläufiger politischer Kompromiß gefunden werden. Aber ob offen getragen oder versteckt – niemand hier zahlt 3.000 US-Dollar je Kalaschnikow für nichts.

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