© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Komplizierte Geschichte
Estland: Die konservative Regierung will Veteranen der Waffen-SS ehren und gerät deswegen in die Kritik
Henning Hoffgaard

Sie sehen, wie kompliziert alles ist“, sagt der estnische Botschafter in Deutschland, Mart Laanemäe, der JUNGEN FREIHEIT. Den empörten Protest, der sich in den vergangenen Tagen gegen sein Land richtete, will er lieber nicht bewerten. „Die Aussagen basieren auf Fehlinformationen“, meint er diplomatisch. Verstehen kann er ihn auch nicht so recht. Schon Anfang Januar habe das estnische Verteidigungsministerium schließlich Berichte dementiert, daß es gezielt ehemalige estnische Soldaten der Waffen-SS ehren wolle.

Tatsächlich habe die estnische Regierung dem Verteidigungsministerium lediglich den Auftrag erteilt, eine Gesetzesvorlage über die Anerkennung von Menschen, „die für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands gekämpft haben“, vorzubereiten. Volker Beck, menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, will das nicht gelten lassen (Kommentar Seite 2). Die „Greueltaten von Hitlers Schergen in der Sowjetunion“ würden so gerechtfertigt, glaubt Beck.

Ähnlich hatte sich auch die Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, Rebecca Harms, geäußert: „Wir Europäer dürfen eine solche Geschichtsfälschung nicht tolerieren“, sagte sie der taz. Der liberal-konservativen Regierung in Tallinn müsse deutlich gemacht werden, „daß die geplante Ehrung mit unseren gemeinsamen Werten unvereinbar ist“ . Laanemäe lassen solche Aussagen kalt. „Es ist nicht denkbar, daß die estnische Regierung Verbrecher ehren wird.“ Jedoch seien viele Widerstandskämpfer gegen die sowjetische Besatzung nie anerkannt worden.

Daß sich darunter auch Veteranen aus Waffen-SS-Einheiten befinden, streitet der Botschafter nicht ab. Entsprechend verärgert reagierte die russische Botschaft in Estland: „Blasphemisch und nicht akzeptabel“, sei das Vorhaben. Überraschend kam der jedoch nicht. Bereits mehrfach hatte es solche Versuche gegeben, die jedoch nie die nötigen Parlamentsmehrheiten erreichten. Mit dem erneut deutlichen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition unter Ministerpräsident Andrus Ansip im vergangenen Jahr gewann die maßgeblich von Verteidigungsminister Mart Laar vorangetriebene Initiative neuen Schwung.

Eine Konfrontation mit der russischen Minderheit im Land, die etwa ein Viertel der Bevölkerung stellt, befürchtet Botschafter Laanemäe nicht: zumal die Gesetzesvorlage im Parlament, in dem ja auch die russische Bevölkerung vertreten sei, ausreichende Unterstützung erhalten müsse. Was er im Gegenzug davon hielte, mit dem neuen Gesetz auch kommunistische Gruppen zu ehren? „Wenn Sie mich so fragen, dann fällt mir keine kommunistische Gruppe ein, die für Estlands Freiheit von den Besatzern gekämpft hat.“ Es ist eben alles ein wenig kompliziert in Estland.

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