© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

CD: H. Genzmer
Überzeitliche Formkraft
Sebastian Hennig

Für die Verbreitung der Werke des 2007 verstorbenen Harald Genzmer setzt sich eine von ihm selbst bereits 1992 gegründete Stiftung ein. So ist unlängst als Teil einer bereits sehr umfangreichen Publikation von Einspielungen seiner Musik die CD „Orchesterwerke IV“ erschienen. Die Werke darauf entstanden in Abständen von ungefähr dreißig Jahren, und es ist erstaunlich, wie wenig das den einzelnen Stücken anzuhören ist. Bis zuletzt blieb der Meister von äußeren Impulsen erstaunlich unberührt und beschäftigte sich allein damit, seine Vorstellung von einer gediegenen, gegenwärtigen und lebendigen Musik durch neue Werke hörbar werden zu lassen.

In Genzmers Künstlerbiographie spiegelt sich die Ambivalenz des Jahrhunderts. Er war Schüler von Paul Hindemith, was auf der vorliegenden Platte vor allem dem 2. Orchesterkonzert (1962/63) hörbar wird. Besonders kunstvoll entfalten sich die Variationen des 2. Satzes. Im Finale ringt sich die gepreßte, ruckartig gedämpfte Musik in einem stampfenden Marsch frei. Seine Bratschensonate gelangte im Berliner Atelier von Emil Nolde zur Uraufführung.

Den beiden großen Expressionisten, die zu überzeitlicher Formkraft drängten, ist auch Genzmers lebenslanges Ringen um eine Kunst, die gehaltvoll und eindringlich, kunstfertig und publikumswirksam zugleich ist, verwandt. „Musik soll vital, kunstvoll und verständlich sein. Als praktikabel möge sie den Interpreten für sich gewinnen, als erfaßbar sodann den Hörer.“ 1936 erhielt man für solche Ambitionen keine goldenen Schallplatten, wohl aber Medaillen. Genzmer wurde bei den olympischen Sommerspielen mit Bronze in der Kategorie „Solo- und Chorgesang“ ausgezeichnet. 1944 fand er sich auf der Gottbegnadeten-Liste der unentbehrlichen Komponisten wieder.

Die „Tänzerische Suite für großes Orchester“ von 1939 breite eine schwere dunkeltonige Feierlichkeit aus. Die 5. Sinfonie für großes Orchester von 1998 könnte auch sechzig Jahre eher entstanden sein. Der 89jährige Komponist ignoriert souverän die Theoreme der permanenten Avantgarde und vertraut auf seine Fähigkeiten: „Ich halte nichts davon, wenn man Ende achtzig ist und seinen Stil noch änderte. Die Fünfte war also eine äußerste Kraftprobe, und ich habe über ein Jahr daran gearbeitet.“

Das wir hier eine ästhetische Sprache vernehmen, die sich Mitte der dreißiger Jahre fertig herausgebildete, hat damit zu tun, das seither keine fruchtbare offene Auseinandersetzung die Entstehung von Kunst begleitet. Abgesehen von den vier unmittelbaren Nachkriegsjahren hat sich die öffentliche Kunstfeindlichkeit nur in der Tendenz verkehrt. Es ist im übrigen ein Zeugnis der Güte dieser Musik, daß sich bereits beim zweiten Hören ein Wiedererkennungsgefühl einstellt. Und das ist kein Ergebnis eines plumpen Effektes und verdankt sich nicht den wenigen Höhepunkten, sondern dem ganzen Entwicklungsverlauf dieser Musik.

Aufgenommen wurden die drei Werke von der Radiophilharmonie Saarbrücken Kaiserslautern. Der Dirigent Werner Andreas Albert hat seine umfassenden Verdienste um die Werke Paul Hindemiths, Siegfried Wagners und Hans Pfitzners. Das heißt, er steht voll in jenem Stoff, aus dem auch Genzmers Orchesterklang gewebt ist.

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