© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Krieg mit gefesselten Händen
Bundeswehr: Die relative Ruhe in Afghanistan könnte sich schon bald als trügerisch erweisen / Eine Lagebeurteilung
Günter Roth

Für eine Beurteilung der Lage in Afghanistan ist eine Reise in eine der ehemaligen Hochburgen der Taliban im Norden Afghanistans, etwa nach Mazar-i-Sharif, zwingend. Denn dort ist die Sicherheitsverantwortung bereits vor Monaten an die Afghanische Nationalarmee übertragen worden. In der Provinzhauptstadt Mazar-i-Sharif und in der Region Balkh war Ende Dezember keine einzige deutsche oder afghanische Patrouille auf den Straßen und Plätzen präsent. Nur Angehörige der Nationalen Polizei standen vor öffentlichen Gebäuden eisern mit ihren Kalaschnikows Posten, andere fuhren in offenen großen Toyotas, mit Maschinengewehren armiert, durch die Haupt-, aber nicht durch die Nebenstraßen.

Spätestens im Laufe der Jahre 2008/09 hatte sich gezeigt, daß das Isaf-Konzept der „Stabilisierung“ gescheitert war. Die Taliban hatten im deutschen Verantwortungsbereich, dem Regionalkommando Nord (RC Nord) wichtige Regionen in ihre Gewalt gebracht. Um dieses für die Gesamtkriegführung wichtige strategische Glacis nicht zu verlieren, verlegten die Vereinigten Staaten zwei Kampfbrigaden in das RC Nord und unterstellten sie deutschem Kommando. Die danach zur Rückgewinnung der von Taliban beherrschten Regionen geführten „Combined Operations“ unter afghanischer Beteiligung wurden jedoch schon bei der Versammlung der Kräfte von den Taliban erkannt. Sie stießen deshalb ins Leere.

Um ein notwendig realistisches Lagebild über den Gegner zu erhalten, ist eine der Grundregeln der Guerilla, der Partisanen oder Aufständischer ins Kalkül zu ziehen: jedem größeren Gefecht auszuweichen, dafür die Taktik der „Nadelstiche“ und „Hinterhalte“ anzuwenden. Die deutsche Militärführung hat womöglich die Politik nicht darüber aufgeklärt, daß die Taliban nicht in klassischen, sondern in revolutionären Mustern denken und handeln. Aufgrund dieser revolutionären Methoden und Taktiken ist es höchst ungewiß, wie viele Taliban im RC Nord tatsächlich in den vergangenen Jahren ausgeschaltet, gefangengenommen oder zum Überlaufen gebracht wurden; deswegen ist es eben unklar, wie viele Regionen, darunter eine der Hochburgen der Taliban – Mazar-i-Sharif –, von den Taliban aus taktischen Gründen aufgegeben wurden, um ein irreführendes Lagebild zu erzeugen. Das Militär hat auch nicht deutlich gemacht, daß eine spezifische Methode der Guerilla darin liegt, über längere Zeiträume auf jede Aktivität zu verzichten, um den Gegner über die eigene Lage und die eigene Kampfkraft zu täuschen.

Dem deutschen Konzept der „Präsenz-Patrouillen“ begegnen die Taliban exakt nach Regeln des verdeckten Kampfes, einer Kombination aus Minen, Sprengfallen und Hinterhalten. Diese oft als feige bezeichnete Methode ist aber sowohl Ausdruck der klassischen als auch der irregulären Kampfführung. Sie entpuppte sich als Hauptursache für die blutigen Verluste der deutschen Soldaten im RC Nord. Das Problem besteht aber nicht in dieser von den Taliban bevorzugten Methode. Es besteht darin, daß die deutsche Militärführung aus den daraus resultierenden Verlusten nicht schon längst Konsequenzen gezogen hat. In einem mit traditionellem deutschem Führungsdenken unvereinbaren stereotypen und geistlosen Methodismus fahren die gepanzerten und marschieren die „Fuß-Patrouillen“ noch immer in die von den Taliban nachts an den Routine-Wegen angebrachten Sprengfallen.

Die Nacht gehört den Taliban. Die im Gesichtsfeld der deutschen Feldlager und vorgeschobenen Stützpunkten mit der Bezeichnung Combat Outposts (COP) von den Taliban während der Nacht vergrabenen Sprengfallen zwingen die morgens zu den Dörfern aufbrechenden Routine-Patrouillen, diese „aufzuspüren“. Die gelegten Sprengfallen stehen jedoch, wie die Verluste in der Osterwoche 2010 in erschütternder Weise zeigen (JF 50/10), unter Beobachtung der Taliban. Sie werden durch elektromagnetische Impulse zur Detonation gebracht, wenn die Patrouillen den Sprengsatz passieren. Sie werden – im Soldatenjargon – „angesprengt“. Das von den Taliban erwartete „Ausweichen“ wird zu vorausgeplanten Hinterhalten genutzt. Die sich dann entwickelnden „Feuergefechte“ sind in der Regel „Rückzugsgefechte“, bei denen (so die Berichterstattung von Einsatzoffizieren) die Rohre der Maschinenwaffen schnell „heißgeschossen“ ausfallen und die Kampfbeladung „in einem Zuge“ verschossen wurde.

Daß aber, trotz der 52 gefallenen, getöteten und zweihundert verwundeten deutschen Soldaten aus dieser defensiven und verlustreichen Strategie keine umstürzenden Schlüsse gezogen werden, kann nur damit erklärt werden: Die Politik möchte in Afghanistan die Sicherheit und Freiheit nicht in einem Krieg und nicht durch eine offensive Kampfführung erreichen. Die Bundeswehr ist gezwungen, einen Krieg mit „gefesselten Händen“ und einer unzureichenden Zahl an Kampftruppen zu führen. Präsenz wird als Wirkung ausgegeben oder mißverstanden. Das defensive Konzept, Ausweichen und Rückzug untergräbt jedoch, wie wiederum Berichte der Einsatzsoldaten zeigen, sowohl Motivation als auch Selbstachtung der in den Combat Outposts eingesetzten Fallschirm- und Gebirgsjäger und Grenadiere.

In dieser prekären Gesamtlage stellt sich also ganz entschieden die Frage nach den eigentlichen Motiven, insbesondere nach der Verantwortbarkeit des Abzuges, die Sicherheit an die Afghanische Armee, im RC Nord, innerhalb einer extrem kurzen Zeitspanne von zwei Jahren zu übertragen. Die Realisierung dieses deutschen Exit-Konzepts, alle Kampftruppen bis 2014 abzuziehen, würde bedeuten: Die hauptsächlichen Träger der labilen Sicherheit im RC Nord, die beiden amerikanischen Kampfbrigaden, die beiden deutschen Ausbildungs- und Schutz-Bataillone sowie das „Manöverelement“, die deutsche „Quick-Reaction-Infanteriekomponente“ (Task Force) sind für den Kampf gegen die Taliban als „Partner“ 2014 nicht mehr vorhanden.

Darüber hinaus stehen sie auch für die Ausbildung der Afghanischen Nationalarmee als zukünftigem Garanten für die Sicherheit in Afghanistan spätestens ab 2014 nicht mehr zur Verfügung. Durch dieses Reduzierungskonzept würde etwas geradezu Unvorstellbares realisiert werden: innerhalb eines Zeitraumes von nur zwei Jahren das zu erreichen, was in zehn Jahren, selbst mit der massiven Unterstützung der amerikanischen Armee durch eine Gebirgsjäger- und Luftlandebrigade nicht zu erreichen war – die Taliban endgültig auszuschalten.

 

Dr. Günter Roth, Brigadegeneral a.D., war Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) und war 2011 in Afghanistan, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Mandatsverlängerung

Der Bundestag entscheidet an diesem Donnerstag über eine Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr am Hindukusch. Mit der Mandatsverlängerung beginnt der bis Ende 2014 vorgesehene Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan. Die Obergrenze wird im neuen Mandat daher von 5.350 auf zunächst 4.900 Soldaten gesenkt. Im kommenden Jahr wird eine weitere Senkung um zusätzlich 500 Soldaten angestrebt. Verteidigungsminister Thomas de Maiziere (CDU) hat allerdings unlängst klargestellt, daß auch nach 2014 deutsche Soldaten in dem Land stationiert bleiben.

Foto: Schatten eines deutschen Soldaten an einer Hauswand nahe Mazar-i-Sharif im Norden Afghanistans: Den Gegner gezielt über die eigene Lage und Kampfkraft täuschen

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