© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Absage an Gängelung durch das Ausland
Ungarn: Budapest erlebte die größte Demonstration seit der Wende 1989 / Solidarität mit der Regierung Orbán
Jan Mainka

Der Platz vor dem Parlament (Kossuth tér) war letzten Sonnabend nachmittag gegen halb sechs bereits gut gefüllt, als die Spitze des vor mehreren Stunden am etwa drei Kilometer entfernten Heldenplatz gestarteten „Friedensmarsches für Ungarn“ hier eintraf. Eine Stunde lang flutete der Menschenstrom danach durch die Alkotás utca (dt. Straße der Verfassung) Richtung Parlament, um den überfüllten Kossuth tér sodann aus Platzgründen gleich wieder in nördlicher und südlicher Richtung zu verlassen.

Eingeladen zu der Großveranstaltung hatten einige konservative Publizisten und Organisationen sowie zahlreiche lokale Vertretungen der Zigeunerminderheit. Die Schätzungen hinsichtlich der Zahl der Teilnehmer variieren im nachhinein, je nach politischem Lager: während die Organisatoren kurz nach der Demonstration von „über 500.000 Teilnehmern“ sprachen, legte sich die linksliberale Presse in Ungarn am Montag auf einen Wert um die 100.000 Personen fest.

Der Wahrheit am nächsten kommt vielleicht das Innenministerium, das in einer Pressemitteilung eine Schätzung von 400.000 Teilnehmern verlautbarte. Immerhin hatte diese Einrichtung wohl den besten Überblick, kreiste doch gelegentlich ein Polizeihubschrauber über der langgetreckten Marschsäule.

Hinter dem Zahlenkrieg steht von oppositioneller Seite nicht zuletzt das Bestreben, die aktuelle Demonstration in der Wahrnehmung auf eine Stufe mit der Anti-Regierungs-Kundgebung der Opposition am ersten Neujahrsmontag zu degradieren. Bei dieser von westlichen Medienvertretern – im Gegensatz zur jüngsten Demonstration – mit höchster Aufmerksamkeit begleiteten Kundgebung gegen den Festakt der Regierung aus Anlaß des Inkrafttretens der neuen Verfassung waren auf der Andrássy út vor der Oper tatsächlich nur „einige zehntausend“ Teilnehmer erschienen.

Wie viele Teilnehmer die Pro-Regierungs-Demonstration letztendlich wirklich hatte, wird sich vor allem wegen ihrer Ausbreitung und Dynamik wohl nie restlos klären lassen, fest aber steht, daß es sich um die größte Kundgebung seit der Feier zur Wiederbestattung von 56er-Revolutionsmärtyrer Imre Nagy am 16. Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz gehandelt hat.

Die Teilnehmer repräsentierten einen breiten Querschnitt der ungarischen Gesellschaft. Gekommen waren Junge und Alte, sichtbar Wohlsituierte und Leute aus einfacheren Verhältnissen, Budapester und Ungarn vom Land, einige sogar aus den abgetrennten ungarischen Gebieten im heutigen Rumänien und der Slowakei.

Gemeinsam war allen, daß sie genug hatten von den heftigen, in letzter Zeit fast pausenlosen Gängelungsversuchen seitens westeuropäischer Politiker und nicht zuletzt von der Ungarn-Berichterstattung in den westlichen Medien. Entsprechend wirkte die Kundgebung wie ein verzweifelter Versuch, sich auf diese Weise bei den westlichen Beobachtern Gehör zu verschaffen. Und so war auch etwa mindestens die Hälfte der Transparente in Englisch, Deutsch und sogar Französisch. Tenor der Losungen waren sowohl ein klares Bekenntnis zur Person und Regierung von Premier Viktor Orbán als auch die Absage an äußere Einmischungsversuche.

Weitere häufig wiederkehrende Motive waren das Bekenntnis zur Demokratie und ein Nein zu Großmachtbestrebungen fremder Mächte auf Kosten Ungarns. Trotz Ähnlichkeiten in den Grundaussagen glich rein äußerlich kaum ein Plakat dem anderen. Den meisten sah man ihre hausgemachte Herkunft an. Es gab anspruchsvoll gefertigte, aber auch sehr simple. Einige Transparente glichen wahren 3D-Installationen und mobilen Wandzeitungen. Zu sehen gab es aber auch einfache Mütterchen, die das, was sie für richtig hielten, nur mit Filzstift auf ein kleines Stück Pappe geschrieben hatten („God bless Hungary“) und es dennoch nicht minder selbstbewußt in die Höhe hielten. Von den westlichen Medien wurden all diese Anstrengungen allerdings nicht gewürdigt (siehe Kommentar Seite 2).

Kein Wunder, schließlich gab es auf dieser Demonstration nichts, womit man gängige Orbán-Ungarn-Klischees bedienen konnte. Unter den Demonstrierenden gab es keine Neonazis, keine rassistischen Sprüche, es wurden keine Fahnen der Europäischen Union verbrannt wie eine Woche zuvor auf einer Kundgebung der Rechtsaußenpartei Jobbik. Ja, es war nicht einmal eine Atmosphäre vorhanden, in der EU-Fahnen hätten verbrannt werden können. Stattdessen herrschte eine ausgelassene, geradezu volksfestartige Stimmung, es gab viele freudestrahlende, erleichterte Gesichter. Immer wieder stimmte die Menge neben Sprechchören spontan auch ungarische Lieder an.

Den Höhepunkt bildete das gemeinsame Absingen des Szózat (dt. Aufruf), der zweiten offiziellen Nationalhymne des stolzen ungarischen Volkes: „Deiner Heimat sei unerschütterlich treu, oh Ungar! (...)“ Wenig später zerstreuten sich die Menschen in dem festen Bewußtsein, etwas Gutes für diese Heimat getan zu haben, sie gingen so friedlich auseinander wie sie zuvor demonstriert hatten.

 

Jan Mainka ist Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung und The Budapest Times.

Foto: Hunderttausende strömen über die „Straße der Verfassung“ in Richtung Parlament: „Eine ausgelassene, geradezu volksfestartige Stimmung“

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