© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Ich mach’ mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt
Kinderbücher: Zur Erinnerung an Astrid Lindgren und ihr unsterbliches Werk
Ellen Kositza

Am 28. Januar 2012 ist es zehn Jahre her, daß Astrid Lindgren – 94jährig – verstorben ist. „Michel aus Lönneberga“, „Wir Kinder aus Büllerbü“, „Ronja Räubertochter“, „Die Brüder Löwenherz, „Kalle Blomquist“: Wenigstens eine Auswahl ihrer Werke gehört ins Buchregal eines jeden Familienhaushalts!

Lindgrens Bücher erreichten bis heute eine Gesamtauflage von nahezu 150 Millionen, allein in Deutschland wurden über 20 Millionen ihrer Romane verkauft. Rund siebzigmal wurden ihre Bücher verfilmt; daß die Schriftstellerin zeit ihres Lebens akribisch diese Fassungen betreute, bürgt dafür, daß es gelungene Adaptionen sind.

Lindgren war 1907 als zweites von vier Kindern im südschwedischen Vimmerby, historische Provinz Småland, geboren worden. In ihren Erinnerungen sprach sie von einer traumhaft schönen Kindheit voller Spiel und Abenteuer: „Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist: Freiheit und Geborgenheit.“

Bereits mit 18 Jahren, sie arbeitete als Volontärin bei der Lokalzeitung, bekam sie einen (unehelichen) Sohn, nach ihrer Heirat eine Tochter. Einige Jahre verbrachte die gelernte Sekretärin und Stenographin als Hausfrau: „Eine Frau hat das Recht, einen eigenen Beruf zu haben, selbständig zu sein und Geld zu verdienen, aber wenn sie Kinder bekommt, so sollte sie diese so lieben, daß sie mit ihnen gerne zumindest die ersten Jahre verbringt: Sie sollte nicht denken: Was für eine Schande, daß ich jetzt an die Kinder gebunden bin.“

1944 begann Lindgrens schriftstellerische Laufbahn, 1945 (1949 auf deutsch) erschien dann „Pippi Langstrumpf“. Ihr berühmtestes Buch ist zugleich dasjenige, das am meisten Kritik einstecken mußte, bis heute: Während konservative Eltern vor der Aufmüpfigkeit des in elternloser Autonomie lebenden Rotschopfs erschraken, gab und gibt es von links gleich zahlreiche Einwände: Zum einen wurde beklagt, daß Pippi sich im Verlauf mehrerer Folgen nicht fortentwickle, daß sie Kind bleibe und ihre Befreiung aus bürgerlichen Maßstäben sich nicht auf ihre Umgebung auswirke. Zum andern beschwerten sich einige Feministinnen, daß Pippi von vornherein als männliches Rollenbild angelegt sei und ihre Strahlkraft somit keinen emanzipatorischen Sog entwickeln könne.

Der angeblich inhärente Rassismus der Geschichte wurde bereits in den siebziger Jahren kritisiert, 2001 brachte die „Dramaturgin“ Angelika Nguyen ihn erneut auf. Mit Pippi Langstrumpf als „bürgerlicher und provinzieller Ulknudel“ fände eine „gefährliche Stereotypisierung des Fremden“ statt. Man erinnert sich vielleicht: Pippis Vater war ein Negerkönig. Seit 2009 sind in den Ausgaben des deutschen Lindgren-Verlags Friedrich Oetinger, Hamburg, die Worte „Neger“ (jetzt: „Südseekönig“) und „Zigeuner“ getilgt. Lindgren hatte solche Umschreibungen stets abgewehrt.

Einem Bonner Kongolesen ging die Maßnahme nicht weit genug. Er hatte 2011 entdeckt, daß noch immer Schul- und Bibliotheksausgaben der alten Version im Umlauf sind. Die Stadt reagierte mit Verständnis und begann mit dem Austausch der Auflagen.

Dergleichen sind Scharmützel am Rande des literarischen Betriebs. Als Marginalien darf man ebenfalls solche Einwürfe betrachten, die Lindgrens poetische Kraft als „nicht mehr zeitgemäß“ erachten, allein, weil ihre zehn-, elfjährigen Protagonisten statt sich dem Umgang mit Smartphone und Wii-Konsole zu widmen, sich in Hüpfspielen und Baumklettern übten.

Auf das Gros der Leser haben Lindgrens Erzählungen, Märchen, Detektiv- und Fantasie- Romane nichts an Charme verloren. Sind sie heute noch aktuell? Ja, wenn man die Lust an Abenteuern, die Sehnsucht nach zeitlosem Trost und die Freude an kindlicher Erlebniswelt schätzt. Heile-Welt-Literatur sind Lindgrens Romane nicht im geringsten!

Nehmen wir nur Jonathan, der von Karl („Die Brüder Löwenherz“) gefragt wird, warum er sich denn in Gefahr begeben müsse. Ebensogut könnte er doch zu Hause am Feuer sitzen und es sich gut gehen lassen! „Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei. Aber warum bloß? fragte ich. ‘Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck’, erwiderte er.“

Welch ein unermeßlich reiches Werk uns Astrid Lindgren hinterlassen hat, läßt sich mit Blick auf die aktuellen Ranglisten der Kinderliteratur erahnen. Die Devise, „Hauptsache, das Kind liest überhaupt irgendwas“, ist kein günstiges Motto! Die Kinderbuchautorin Mirjam Pressler hatte vor einiger Zeit zu Recht vor mancherlei populären Inhalten und Ausdrucksformen gewarnt: „Mit jedem trivialen Buch, das gelesen wird, wird ein literarisches nicht gelesen.“

Nach wie vor führen die Verkaufslisten Lindgrens Bücher auf nicht allzu schlechten Plazierungen. Die vorderen Plätze hingegen sind geradezu dezidiert anti-lindgrenesk besetzt. Weit oben finden wir Folgen der „Gregs-Tagebuch“ –Reihe, ein zynisch-misanthroper All-Age-Zwitter zwischen Comic und Erzählung, den Eltern wie rasend kaufen, weil sie die notorische Empfindung des pubertierenden Buckelmännchens Greg, „von Idioten“ (sprich: Eltern, Lehrer, sonstige Autoritäten) „umzingelt“ zu sein, grinsend mitempfinden und diesen Aberwitz mit den Kleinen gern teilen. Gregs Lebenswelt ist weder heil noch existentiell bedroht wie in Lindgrens Büchern, sie ist scheiße, ein Zustand, der sich durch ein gerüttelt Maß an Sarkasmus zu heiterem Defätismus verflüchtigen läßt.

Es folgen auf der Hitliste der 2011 bestverkauften Kinderbücher „Lego Star Wars“, ein ästhetisch fragwürdiger Ausgleich in pazifistisch geprägter Zeit, sowie die (ebenfalls als „All-Age-Format“ gepriesene) Romanreihe „Warrior Cats“.

Unter den erfolgreichsten zehn Kinderbüchern halten sich weiterhin Christian Wulffs Lieblingsbuch vom „Kleinen Prinzen“ sowie der langjährige Verkaufsschlager „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab“; ein weiteres Buch, das vom Nimbus der altersunabhängigen Eignung profitiert: Für Kinder – die Gefühlsseligkeit genau registrieren und wenig wertschätzen – nicht wirklich interessant, für Erwachsene banal; im Grunde Lektüre für sentimental veranlagte Menschen jenseits der Adoleszenzschwelle.

Der zuletzt mit 10.000 Euro dotierte deutsche Astrid-Lindgren-Preis, der regelmäßig zu den „runden“ Geburtstagen der Autorin ausgelobt wird, wurde zweimal mangels passender Kandidaten nicht vergeben. Einmal 1977, als die antiautoritäre Kinderliteratur den Markt beherrschte, und zuletzt 2007: Es fand sich kein Buch würdig genug, in Lindgrens poetische Fußstapfen zu treten.

Foto: Astrid Lindgren (1907–2002): Lust an Abenteuern, Sehnsucht nach zeitlosem Trost und Freude an kindlicher Erlebniswelt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen