© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Rückblicke in eine heile Welt?
Geschichtsschreibung war Instrument der Standortbestimmung: Mittelalterinterpretationen zwischen den Weltkriegen
Uwe Ullrich

Das Ende des Mittelalters, einer historischen Welt der Ordnung und Ganzheit, hat den Beginn einer problembehafteten Entwicklung mit sich gebracht.“ So interpretierten vielfach um die vorvergangene Jahrhundertwende Künstler und Literaten, Bildungsbürger und der neue Typ des Intellektuellen den von ihnen so verstandenen politischen, gesellschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Zeitgeist.

Bastian Schlüter, wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem philologischen Institut der FU Berlin, untersucht in seiner Dissertation die Mittelaltervorstellungen deutscher Schriftsteller unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen zwischen den beiden Weltkriegen anhand ihrer literarischen Zeugnisse. Zum Vergleich zieht er qualitativ verschieden zu wertende Dichter wie Ricarda Huch, Erwin Guido Kolbenheyer, Rudolf Borchardt oder die Nobelpreisträger Hermann Hesse und Thomas Mann heran.

Reich des Stauferkaisers Friedrich II. als Wunschwelt

Bei letzterem entlieh sich Schlüter den Buchtitel. Im Roman „Doktor Faustus“ (1947) versuchte Mann, die deutsche Historie mentalitätsgeschichtlich zu deuten und prägte dort das eindrückliche Bild der „Explodierenden Altertümlichkeit“ für die Sprengkraft, welche in der unmittelbaren Verbindung von völlig Altem und ganz Neuem entstehen kann. Vor einer vergleichbaren Situation standen die Menschen nach dem Ersten Weltkrieg. Der evangelische Theologe Ernst Troeltsch erfaßt in seinem Aufsatz „Die Krisis des Historismus“ (1922) die Zwiespältigkeit der Lage treffend: „Ein unendliches Rätseln und Deuten an der Geschichte, verwegene Neukonstruktionen, pessimistische Verzweiflungen oder skeptische Beschaulichkeiten sind die Folge.“

Charaktere und Kämpfe schildert Erwin Guido Kolbenheyer in seiner „Paracelsus“-Trilogie (1917 bis 1925), in welcher der philosophierende Naturwissenschaftler als Einzelkämpfer und Außenseiter Altes und Neues überwindet. Das heißt, in der Darstellung des Schriftstellers, er kämpft sich nach „deutscher Art“ gegen die „Vormacht der Welschen“ frei. Erklärungsmodelle und Deutungsmuster sind in der biologistischen Weltanschauung Kolben-heyers aus der Natur abgeleitet und dokumentieren sich im naturhaft-organischen „Weltenlauf“.

Verklärt dieser die Vergangenheit als Beginn des Kampfes, die „deutsche Geschichte frei von allen europäischen Bevormundungen“ zu machen, preist Hermann Hesse im zwischen 1930 und 1942 entstandenen „Glasperlenspiel“ die Rückkehr zur Kontemplation in der Zukunft. Hesse interpretiert seine Gegenwart als „feuilletonistisches Zeitalter“, eine an Bedeutung gewinnende Massenkultur, die entstand, als das Gedeihen „in materieller Not und in einer Periode politischer und kriegerischer Gewitter“ endete und die „Unsicherheit und Unechtheit des geistigen Lebens“ offensichtlich wurde.

Während sich Hesse gern in die „pädagogische Provinz“ mit seinen Klöstern und zweckfreier Forschung zurückgezogen hätte, entwirft Ernst Kantorowicz in „Kaiser Friedrich der Zweite“ (1927) das mittelalterliche Ideal eines Herrschers, der sinnstiftend jetzt, in dieser kaiserfreien Zeit, wieder regieren möge. In einer gekonnten Kombination aus sprachlicher Brillanz, Pathos und dramaturgischer Gestaltung entwirft der Autor das Wunschbild. Der Stauferkaiser agiert als Staatschöpfer, der sich ohne Rücksichten mit der Eroberung Siziliens ein Machtzentrum schafft, in dem es an Wichtigem fehlt: Einheit des Volkes, Sprache, Glauben, Recht, und dem damit die „wunderbare“ Aufgabe zufällt, die „Erschaffung des Menschen“, wie Ernst Kantorowicz ausführt, voranzutreiben. Er stellt damit den „Chaosbezwinger“ als leuchtendes Vorbild in die politisch aufgeladene Weimarer Republik. Den Neuen Menschen wollten auch die Antipoden jener Zeit, Kommunisten und Nationalsozialisten, schaffen.

Bastian Schlüter hält sein in der umfangreichen wie kenntnisreich formulierten Einleitung gegebenes Wort: Er handelt die Entwicklung und Stellung modernen Geschichtsdenkens als zentrales und konstitutives Element der Moderne ab. Geschichtsschreibung war Instrument der Standortbestimmung geworden, leistete unmittelbare Hilfe für kulturelle Sinnstiftung und diente als Instanz der Selbstdeutung, die weit über den wissenschaftlichen Bezugsrahmen hinausreichte. Etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts verschob sich die Wirklichkeitsdeutung durch die fundamentale Änderung der Wahrnehmung von Zeit.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verloren durch schrittweise Aufhebung religiöser Sinnstiftung althergebrachte Verhältnisse, in deren Folge das Mittelalter, je nach individuellem Standpunkt, negativ oder positiv in Weltanschauungen einbezogen wurde. Zu seinem betrachteten Zeitraum führt Schlüter anschaulich durch viele angedeutete Beispiele und verweist gleichfalls auf Probleme der (modernen) Kunstschöpfung, einschließlich Denkmale und Denkmalpflege, Wissenschaft sowie der variierenden Stellung und Wahrnehmung des Historismus in den spannungsreichen geistigen Auseinandersetzungen – Bedeutung und Instrumentalisierung der Kulturkritik sind thematisiert – im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie vor Beginn des Ersten Weltkrieges.

Welche Bedeutung den zeitweiligen Leitbildern Gotik und Renaissance sowie dem Verhältnis zwischen dem romanischen und germanischen Kulturraum zukommen, führt Bastian Schlüter kenntnisreich aus. Der besondere Wert der Studie liegt in der durchgehaltenen Konsequenz, hier keine literaturwissenschaftliche, sondern eine ideengeschichtliche Darstellung mit allen möglichen komplexen Zusammenhängen vorgelegt zu haben.

Bastian Schlüter: Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen. Wallstein Verlag, Göttingen 2011, gebunden, 463 Seiten, 48 Euro

Foto: Castel del Monte, Kaiser Friedrichs „Steinerne Krone Apuliens“: Chaosbezwinger als leuchtendes Vorbild

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