© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Den Vorhang zu und alle Fragen offen
Der niederländische Arzt Pim van Lommel über unerklärliche Lichttunnelphänomene und „Höllenerlebnisse“, die Sterbende im Jenseits erlebt zu haben glauben
Claus-M. Wolfschlag

Die Verdrängung des Jenseits gehört zu den zentralen Antriebsbedingungen unserer modernen Welt. Erst da, wo nur noch Diesseits existiert, kann sich menschlicher Lebenssinn allein in Genuß und Materialismus erschöpfen. Der Gedanke an eine Existenz nach dem Tod erscheint mittlerweile nur noch als esoterische Spinnerei und hat beispielsweise kulturell zur Folge, daß Deutsche für Beerdigungen oder Friedhofsgestaltung immer weniger Geld auszugeben bereit sind. Schließlich habe der Tote ja „nichts mehr davon“.

Für manche um so beängstigender (für andere beglückend) muß ein Autor erscheinen, der die Existenz eines „Jenseits“ aus ganz neuer Sicht thematisiert, sie gar mit medizinischen Fakten untermauert. Pim van Lommel ist zudem kein Sektenguru, sondern Arzt. Viele Jahre war der Kardiologe in leitender Position in einem niederländischen Krankenhaus aktiv. Seit 1986 beschäftigt er sich mit dem Phänomen der Nahtoderfahrung, auf das er während seiner Arbeit gestoßen ist. Reanimierte Patienten berichteten von Erscheinungen, die sie während der Phasen des Hirntods hatten.

Lommel studierte Berichte solcher Nahtodpatienten, führte eigene umfangreiche Studien durch. Dabei ließen sich – quer durch unterschiedlichste Kulturen – in Abstufungen gemeinsame Erfahrungen beobachten: die Begegnung mit Verstorbenen (allerdings stets mit jugendlichem Antlitz), ein Lichttunnel (der von einer Grenze der Endgültigkeit ohne Rückkehrmöglichkeit markiert wird), das Gefühl des Eintauchens in eine Welt völliger Geborgenheit und Liebe, die Überwindung von Raumgrenzen in Gedankengeschwindigkeit sowie die geistig wache Beobachtung des menschlichen Geschehens von einer außenstehenden Position.

Manche konnten somit ihrer eigenen Wiederbelebung über die Schulter des Arztes blickend beiwohnen. Selten kam es auch zu beängstigenden „Höllenerlebnissen“. Langfristig ist Nahtodpatienten im weiteren irdischen Leben gemein, daß sie sich von materiellen Werten abwenden, mehr Aufgeschlossenheit gegenüber Spiritualität und mitmenschlicher Empathie entwickeln. Lommel führt diese gesammelten Beschreibungen weiter zu der Theorie, daß nicht das Hirn der autonome Sitz unseres Bewußtseins sein dürfte, sondern dieses außerhalb des Körpers existieren muß.

Demnach wäre der menschliche Körper nur eine Art „Empfangsgerät“ für ein externes, unendlich existierendes Bewußtsein. Er wäre das „Radiogerät“ für ein anderweitig gesendetes Programm, wie der Computer, der die Informationen aus dem immateriellen Internet erhält. Lommel widerlegt medizinisch detailliert jene Argumente, die den Nahtod auf Projektionen oder finale Hormonausschüttungen zu reduzieren versuchen. Und er begründet seine These mit umfangreichen Erläuterungen zu Hirnfunktionen, dem Nervenwachstum, der Zell-erneuerung und der möglichen Funktion der bislang unerforschten Junk-DNA.

Lommel schließt den Kreis, indem er verdeutlicht, daß er eigentlich nichts Neues mitteilt. Die Jenseits- und Höllenbeschreibungen vieler alter Religionen decken sich nämlich erstaunlich mit den Berichten moderner Nahtodpatienten. Und deren Zahl ist – dank des Fortschritts in der medizinischen Wiederbelebung – im Wachsen. Lommel hat ein beeindruckendes und nachdenklich stimmendes Buch verfaßt, obgleich es mehr neue Fragen aufwirft als alte löst.

Pim van Lommel: Endloses Bewußtsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. Patmos Verlag, Düsseldorf 2011, broschiert, 440 Seiten, 16,95 Euro

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