© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Trügerische Geldschwemme
Gesundheitspolitik: Kurzfristige Milliardenüberschüsse wecken Begehrlichkeiten / Nichtzahler belasten gesetzliche und private Kassen
Jens Jessen

Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) befand sich selten in einer besseren Situation. Bereits im dritten Quartal 2011 war ihr Plus auf fast vier Milliarden Euro angestiegen. Den Einnahmen von knapp 138 Milliarden Euro standen Ausgaben in Höhe von 134 Milliarden Euro gegenüber. Zum Jahreswechsel 2011 war so viel Geld im System, daß auch die letzte Kasse den leidigen GKV-Zusatzbeitrag in diesem Jahr abmelden kann. Der GKV-Schätzerkreis veranschlagte die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds auf acht bis neun Milliarden Euro.

Die Bruttolöhne haben angezogen, der Wirtschaftsaufschwung erhöhte die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Die am Arbeitsentgelt orientierten Einnahmen fluteten Renten-, Arbeitslosen-, Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung. Ob das lange so bleiben wird, ist fraglich. Dennoch werden Forderungen laut, neue Baustellen im Gesundheitswesen einzurichten.

Dabei ist die Lage weniger nachhaltig als die Politik behauptet. Das liegt am Gesetzgeber, der das Finanzplus durch kurzfristige Maßnahmen schuf, die 2013 auslaufen: So wurden die Pharmapreise durch politische Eingriffe ebenso gesenkt wie die Krankenhauskosten. Die diskutierte Abschaffung der Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal und eine Senkung des Beitragssatzes von 15,5 Prozent würde die Kassen belasten – auch in der vielleicht nicht mehr so rosigen Zukunft.

Das „Landarztgesetz“, durch das die Praxen der unterversorgten Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo besetzt werden sollen, ist teuer, hat aber seinen Wert bisher noch nicht nachgewiesen. Die Auswirkungen demographischer, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Einflüsse haben in den neunziger Jahren mit zunehmender Tendenz zu räumlichen Ungleichheiten in Deutschland geführt. Prosperität und Niedergang der Regionen liegen oft dicht nebeneinander und heben sich mehr und mehr voneinander ab. Einerseits gibt es nur geringe Zugangsbarrieren zu Arbeitplätzen, zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen mit der Folge der Zuwanderung von Arbeitskräften und erhöhter Investionstätigkeit. Auf der anderen Seite stehen Arbeitsplatzmangel, Alterung der Population in der Region, Schließung von Schulen und der Verlust des letzten Hausarztes.

Es wird wenige Jungärzte reizen, eine Vertragsarztpraxis von einem älteren Kollegen zu übernehmen, wenn die Öffnung der Kliniken für die ambulante Behandlung den niedergelassenen Ärzten die existentielle Basis entzieht. Ärzte haben eine 50- bis 60-Stunden-Arbeitswoche. Fast die Hälfte davon dient der Erfüllung umfangreicher Auflagen und nicht der Gesundheitsversorgung. Es ist nachzuvollziehen, daß ein frischgebackener Facharzt für Allgemeinmedizin, Gynäkologie oder Augenheilkunde als Ausgleich für die Bewältigung der Bürokratieorgien im deutschen Medizinbetrieb ein attraktives Umfeld zum Streßabbau einem weniger schicken dörflichen Milieu vorzieht.

Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der GKV-Kassen in Deutschland von 420 auf unter 150 geschrumpft. Diese Entwicklung widerspricht dem Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007, das auf ein starkes Bundeskartellamt setzte, um Zusammenschlüsse gesetzlicher Kassen untersagen zu können. Nach einem Urteil des Landessozialgerichts Hessen sind aber die GKV-Kassen keine Unternehmen im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die der Aufsicht durch das Bundeskartellamt unterliegen. Da der Präsident des Kartellamtes, Andreas Mundt, die Fusionskontrolle bei den Kassen beenden muß, wird nach seiner Sicht die Anzahl der Kassen weiter sinken.

Großkrankenkassen könnten wohl nicht mehr zu verhindern sein, weil die Wettbewerbsaufsicht in Zukunft keine Möglichkeit hätte, übertriebene Marktmacht zu unterbinden. Eine Konzentrationswelle in der GKV fördert nach den deutschen Gesundheitsökonomen Einsparungen und Effizienzverbesserungen. Gegen Absprachen der Kassen bei der Erhebung von Zusatzbeiträgen kann das Kartellamt allerdings nicht mehr vorgehen.

Der GKV verursachen Versicherte, die keine Beiträge zahlen, inzwischen Milliardenschäden. Die Nichtzahler genießen dennoch einen eingeschränkten Versicherungsschutz. Das Problem ist durch die 2009 in Kraft getretene Krankenversicherungspflicht entstanden. Im August 2011 konnten nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes 638.000 Versichertenkonten nicht ausgeglichen werden. 108.000 dieser Beitragskonten gehören zu Kassenmitgliedern, die nach Einführung der Versicherungspflicht in die GKV zurückgekehrt waren. Die restlichen 530.000 Konten betreffen vor allem freiwillig Versicherte. Durch die Nichtzahler fehlen 1,2 Milliarden Euro.

Ähnliche Entwicklungen verzeichnet auch die Private Krankenversicherung (PKV), die 554 Millionen Euro Außenstände beklagt. „Es gab Ende September 2011 insgesamt 144.000 Nichtzahler in der Privaten Krankenversicherung. Seit Einführung der allgemeinen Pflicht zur Versicherung können private Krankenversicherungen ihren Kunden wegen Zahlungsrückständen nicht mehr kündigen“, klagte Dirk Lullies vom PKV-Verband. Die Beitragsschuldner der GKV und der PKV müssen zwar auf den regulären Arztbesuch verzichten. Die Kosten für Notfallversorgung, Schmerzbehandlung und Vorsorgeuntersuchungen sind aber zu begleichen. Der PKV-Verband verhandelt mit verschiedenen Ministerien über Spezialtarife mit Mindestleistungen für Nichtzahler. Nach Wiltrud Pekarek, Vorstandsmitglied der Halleschen Krankenversicherung, ist das Ziel der neuen Nichtzahlertarife, „den Anstieg der Beitragsrückstände abzumildern und die Versichertengemeinschaft zu entlasten“.

Die Kosten der PKV steigen zudem schneller als die der GKV. „Lohnt sich die Privatversicherung noch?“ fragte kürzlich die FAZ. Die Beitragssätze der Privaten steigen durchschnittlich um fünf Prozent pro Jahr. Die PKV-Beiträge sind leistungs-, alters- und gesundheitsabhängig – aber nicht einkommensabhängig wie bei der solidarischen GKV. Die Pro-Kopf-Verwaltungskosten der PKV sind (unter anderem wegen der Provisionszahlungen) zwei bis dreimal so hoch wie in der GKV (dort etwa fünf bis sechs Prozent, rund 120 Euro je Versicherten).

Von einer privaten Vollversicherung sollte daher der Abstand halten, der Familie hat. Im gesetzlichen System sind die Familienangehörigen – Kinder und nichtverdienende Ehegatten – beitragsfrei mitversichert. In der PKV hat jedes Familienmitglied eine Prämie entsprechend dem individuellen Risiko zu zahlen. Der Wechsel von der PKV in die GKV ist zudem nur bis zum 55. Lebensjahr möglich. Ältere müssen privat versichert bleiben. Es gibt nur drei Möglichkeiten, in die GKV zurückzukehren: Einkommen senken, Teilzeit arbeiten und auf eine niedrigbezahlte Arbeitsstelle wechseln. Aber egal ob GKV oder PKV – allein die steigende Lebenserwartung und der teure medizinische Fortschritt läßt die Gesundheitskosten unweigerlich steigen.

Foto: Zu wenige Jungärzte wollen aufs Land: Eine 50- bis 60-Stunden-Arbeitswoche ohne attraktives Erlebnisumfeld

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