© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Der Kampf ums Internet
Web 2.0: Ein Abkommen soll Standards im Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen setzen / Die Netzgemeinde spricht von Zensur und kündigt Widerstand an
Baal Müller

Man vergleicht die gewaltigen Veränderungen, die vom Internet ausgehen, manchmal mit den vom Buchdruck angeregten Entwicklungen, und hinsichtlich ihres umfassenden Charakters sind beide Medienrevolutionen sicher verwandt. Dabei scheinen Buchdruck und Internet bezüglich ihrer politischen Implikationen in entgegengesetzte Richtungen zu weisen. Ersterer hat, durch die Förderung der Reformation und die Ausbildung von Nationalliteraturen, entscheidend zur Formung von Nationalstaatlichkeit, Demokratie und bürgerlicher Identität beigetragen; letzteres überschreitet und transformiert die Nationen als Medium der Globalisierung.

Das Grundprinzip bürgerlich-modernen Bewußtseins ist das einer selbstbestimmten Subjektivität, zu der unter anderem das Konzept der Urheberschaft gehört. Anders als der mittelalterliche Dichter empfindet sich der moderne Schriftsteller als Autor seiner Werke, über deren, nicht zuletzt kommerzielle, Verwendung er über seinen Tod hinaus bestimmt.

Marxistische, später strukturalistische und (de)konstruktivistische Philosophen haben dieses Prinzip in Frage gestellt und das Ich als beliebig knüpfbaren Knotenpunkt unpersönlicher Sozial- oder Kommunikationsstrukturen betrachtet; und heute sehen viele die digitale Revolution entweder als Verheißung einer basisdemokratischen weltweiten Community oder als Mittel einer drohenden Versklavung des Menschen durch Mega-Konzerne und „Datenkraken“.

So jedenfalls erscheint es, wenn man die aktuellen Debatten zum „Anti-Counterfeiting Trade Agreement“ (ACTA) verfolgt. Die Verhandlungen werden bereits seit 2008 zwischen führenden Industriestaaten sowie der EU geführt und sollen zur Etablierung internationaler Standards im Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen führen. Kritiker auf seiten der Internetgemeinde und Parteien unterschiedlicher, nicht nur grüner und linker Couleur sehen Bürgerrechte und die Freiheit des interaktiven Web 2.0 gefährdet.

Seit der Unterzeichnung des Abkommens durch die EU-Kommission und 22 EU-Staaten am 26. Januar haben sich die Auseinandersetzungen zugespitzt, und weitere Konflikte sind zu erwarten, denn bevor ACTA völkerrechtlich verbindlich wird, muß es noch von den meisten Parlamenten ratifiziert werden. Das Europäische Parlament wird voraussichtlich im September abstimmen, und auch der Bundestag soll dieses Jahr einen Beschluß fassen.

Ob das Abkommen in der jetzigen Form allerdings geltendes Recht wird, ist mehr als fraglich. Besonders in Polen gab es Massenproteste gegen ACTA, die sogar mit der Solidarność-Bewegung verglichen wurden und die Regierung veranlaßten, die Ratifizierung vorläufig auszusetzen; in Deutschland und anderen Ländern sind für den 11. Februar Demonstrationen geplant. Einzelne Regelungen, die etwa die Anbieter von Internetdiensten wegen „Beihilfe“ zu Urheberrechtsverletzungen in starke Verantwortung genommen hätten, wurden bereits aufgeweicht, und es ist zu erwarten, daß man sich am Ende auf Kompromisse verständigen wird, die die unübersichtliche Situation vielleicht noch verkomplizieren.

Andererseits wäre wünschenswert, wenn durch den Zwang zur Kompromißbildung die weitere Diskussion auf eine sachlichere Ebene gebracht würde. Die derzeitige Alles-oder-nichts-Rhetorik mit ihren Scheinalternativen von schrankenloser Freiheit und „Big Brother“ vernebelt die Tatsache, daß es auf beiden Seiten plausible Argumente, aber auch deren lobbyistische Instrumentalisierung, gibt.

So hat jeder Kulturschaffende, wenn er von seiner Tätigkeit leben will, ein Interesse an einer Beibehaltung von Urheberrecht und „geistigem Eigentum“; andererseits profitieren die Konzerne, die nur mit Vermarktung betraut sind, davon gewöhnlich mehr als die eigentlichen Schöpfer, und es ist ein merkwürdiges Mißverhältnis, wenn alle möglichen Instanzen, die etwa als Verlag, Werbeagentur, Graphiker, Lektor und Übersetzer an der Publikation eines Buches mitwirken, an diesem verdienen und einzig der Autor leer ausgeht.

Hat die traditionelle Medienbranche also Interesse an einem strikten Urheberrecht, so geht es auch Internetgiganten wie Google und Facebook nicht nur um das „Menschenrecht“ ihrer User auf kostenlose Up- und Downloads, sondern um deren möglichst lukrative Verwendung. Urheber- und andere Persönlichkeitsrechte stehen denen auf möglichst uneingeschränkte Kommunikation und freien Datenaustausch ebenso gegenüber wie die jeweiligen Konzerninteressen, das eine oder das andere zu vermarkten, so daß eine pauschale Parteinahme nur um den Preis der Simplifizierung möglich ist.

Wägt man die Individualinteressen gegen die der Allgemeinheit ab, ist außerdem zu bedenken, ob unter letzterer eine fiktive Nutzergemeinschaft oder die Gegenöffentlichkeit innerhalb eines Staats zu verstehen ist; letzterer hat das Internet, wie die schwindende Akzeptanz des medialen Mainstream zeigt, gewaltige Dienste erwiesen. Alternative Meinungen und Bewegungen können sich nicht ohne ein freies, unzensiertes Internet verbreiten, und die daraus erwachsenden Chancen dürfen nicht unter dem Vorwand von Urheberschutz und Kriminalitätsbekämpfung aufgegeben werden. Das Urheberrecht kann auch ohne totale Überwachung jeder einzelnen Aktion im Internet geschützt werden, indem sinnvoll zwischen kommerziellen und privaten Nutzungen unterschieden wird.

Schließlich sollte sich der Künstler wieder verstärkt darauf besinnen, welche Aspekte seines Werkes nicht dem Downloadprinzip unterliegen. Walter Benjamin sprach 1935 vom „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und verwies auf die „Aura“ als Zusammenspiel von Nähe und Ferne, das unter dem Einfluß der nivellierenden Massenmedien verkümmere. Ein Kunstwerk besteht nicht nur in einem bloßen Musikstück oder einem Text: Das Konzert, zu dem man sich festlich kleidet, oder die Lesung, bei der man anschließend ein Glas Wein mit dem Dichter trinkt und sich dessen Buch signieren läßt, lassen sich nicht „herunterladen“.

Foto: Logo der Stoppt-Acta-Bewegung: Individualinteressen gegen die der Allgemeinheit abwägen

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