© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Geschichtenerzähler
Zwischen Literatur und Film: Der Regisseur, Produzent und Schriftsteller Alexander Kluge wird achtzig
Christian Dorn

Ohne, daß wir uns gegenseitig Geschichten erzählen, haben wir keine Wirklichkeit“ – das Bekenntnis des erzählerischen Multitalents Alexander Kluge wird anschaulich in der Betrachtung des kaum zu überblickenden Werkes, das der am 14. Februar 1932 als Arztsohn in Halberstadt geborene Kluge bis heute vorgelegt hat. Ausgehend von seinem 2003 erschienenen Erzählband „Die Lücke, die der Teufel läßt“, der etwa 500 Geschichten versammelt, könnte auch kalauernd gefolgert werden: Kluge schreibt wie der Teufel.

Dabei ist der promovierte Anwalt, der zugleich Geschichte und Kirchenmusik studierte, vor allem als grenzüberschreitender Akteur zu begreifen: Neben den Literaten treten der Essayist, der Theoretiker und vor allem der Filmemacher, sei es als Produzent oder als Regisseur. Mit all diesen Facetten ist er heute einer der wohl „ausgezeichnetsten“ Autoren Nachkriegsdeutschlands. Wenn hier stellvertretend der Büchner- (2003) und der Grimme-Preis (2010) genannt werden, so nicht zufällig, bezeichnen sie doch den zwischen Literatur und Film zu verortenden Spannungsbogen in Kluges Schaffen. Dieses ist so enzyklopädisch und polyperspektivisch, daß es selbst gestandene Kollegen von Kluge gibt, die sich aus Ehrfurcht vor seinem äußerst reichhaltigen Werk außerstande sehen, dieses adäquat zu würdigen. Oder sie behelfen sich wie Jan Philipp Reemtsma, der von der „(Literatur-)Gattung Kluge“ spricht.

Ebenso zutreffend scheint die Beobachtung von Peter Berling, der – ohne finanzielle Mittel – zum ersten Filmproduzenten Kluges wurde. In seiner jüngst erschienenen Autobiographie erinnert sich Berling an die schon damals „unerschöpfliche und nimmermüde Phantasie des Dr. Kluge“, der – nach seiner Assistenz bei Fritz Lang – ständig mit neuen Film-ideen schwanger ging. Paradigmatisch für diese wie für das gesamte Schaffen Kluges ist eine – wie es die FAZ jüngst nannte – „Art Prisma, das den Geschichtsstrahl in Geschichten zerlegt, und zwar inklusive des ultravioletten (will sagen: nur möglichen) Bereichs“. Die damit einhergehende Technik der assoziativen Montage fungiert hier als eine „realistische Methode“. Sie läßt Tatsachen und Erfundenes ineinander überfließen, da – so Kluges Diktum – Wünsche und Möglichkeiten ebenfalls existentieller Bestandteil der Wirklichkeit seien. In kongenialer Weise hat Kluge dies etwa in seiner bekannten Fernsehserie „Facts & Fakes“ vorexerziert, für die Berling in unzählige fiktive Biographien geschlüpft war, mit dem gemeinsam er die Kontigenz von Geschichte bewußt machte.

Dabei sind die Sendefenster, die Kluge sich in den achtziger Jahren durch eine geschickte Klausel in den TV-Privatsendern sicherte, mittlerweile zu einem Bildungsersatz geworden, der die öffentlich-rechtlichen Anstalten zuweilen glatt verzichtbar erscheinen läßt – nicht zuletzt auch deshalb, weil hier frei von jeder Political Correctness philosophiert wird. Dergleichen gilt für seinen im Vorjahr veröffentlichten Band „Das Bohren harter Bretter“, in dem er Merkels Anwesenheit am Tag der Niederlage Deutschlands am 8. Mai auf dem Roten Platz unter dem lakonischen Titel „Kanzlerin am falschen Ort“ abhandelt, oder ein Porträt Thilo Sarrazins, den er als einen „Liebhaber dicker Bretter“ vorstellt und als „Dezisionisten“ lobt, also als eine Gegenfigur zu Habermas.

Diese Positionierung ist deshalb interessant, weil kaum jemand die deutsche Nachkriegsgeschichte derart kontinuierlich begleitet hat wie Kluge. Sein Nimbus verdankt sich dabei seiner Rolle als spiritus rector des Neuen Deutschen Films. Ausschlaggebend hierfür waren nicht zuletzt Kluges Erfolge in Venedig, wo er 1966 mit „Abschied von gestern“ als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen erhielt, gefolgt 1968 vom Goldenen Löwen für „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Anders Kluge: Solange dieser Solitär weiter schreibt und dreht, werden die Antworten auf unsere Geschichte, Gegenwart und Zukunft nicht ausgehen.

www.kluge-alexander.de

Foto: Alexander Kluge während seiner Preisrede zum Theodor-W.-Adorno-Preis (2009) in der Frankfurter Paulskirche

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen