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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/12 10. Februar 2012
Der Flaneur Was da pünktlich im Dresdner Hauptbahnhof auf der Strecke Prag-Zürich einrollte, ein deutscher und kein tschechischer Zug. Letztere führen noch die weichen Plüschbänke, auf denen sich der Reisende auch ausstrecken und schlafen kann. Aber die Deutsche Bahn setzt auf Einzelsitze in Schalenform. Diese sind inzwischen verschlissener als der tschechische Plüsch. Wenigstens funktionieren diesmal Heizung und Sitzverstellung. Und zum Glück taucht auch kein Nachbar auf. Dafür aber ein paar Sitzreihen weiter vorn Herr Krüger. Dieser, ein kleiner agiler Endsechziger, reist mit seinem vielleicht 40jährigen Adoptivsohn. Das versichert er zumindest der Schaffnerin, pardon: der Zugbegleiterin. Diese ist derart vollschlank, daß sie gerade noch durch die Sitzreihen paßt, aber bahnuntypisch freundlich. Ob man in Frankfurt-Süd geweckt werde, will Herr Krüger wissen. Die Zugbegleiterin schüttelt den Kopf: „Ich erkläre Ihnen das mal: Erfurt ist der letzte Einstieg, dann geht das Licht aus. Zwanzig Minuten vor Frankfurt-Süd geht es wieder an. Das ist das Zeichen, bald auszusteigen und der einzige Tip, den ich Ihnen geben kann.“ Krüger, dem Dialekt her Dresdner Urgestein, ist fast zufrieden, will nur noch ein „Kussel“ haben. Bettelt darum. Die Uniformierte wehrt ab: „Das macht der Kollege.“ Der nickt: „Sie bekommen einen Eimer Wasser, frisch gewaschen schläft es sich am besten.“ Herr Krüger unterhält derweil seinen Adoptivsohn und damit den ganzen Wagen mit seiner Lebensgeschichte. „Warst du schon mal am Madison Square? Da kannst du schön spazieren.“ Dazwischen tilgt er schier unerschöpfliche Biervorräte. Die leeren Aldi-Plasteflaschen trägt Herr Krüger brav in die großen Abfallbehälter im Vorraum. „Da haben die Bettler in Frankfurt etwas aus dem Osten, worüber sie sich freuen können.“ In Erfurt geht endlich das Licht aus und das Geplapper von Herrn Krüger verstummt. „Tschüß, schlaf gut, mein Schatzle“, flüstert er leise. |