© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Auf dem Weg zu sich selbst
Vergessene Literatur: Ernst Wiecherts Roman „Das einfache Leben“ ist gegen die Masse und gegen die Moderne geschrieben
Thomas Fasbender

Ein vergessener Autor der besonderen Art ist der 1950 in der Schweiz verstorbene Ostpreuße Ernst Wiechert. Seine Bücher, Bestseller zu ihren Zeiten, verstauben in den Antiquariaten, der deutsche Osten wird von slawischen Völkern besiedelt und sein Vaterland ist ein Rädchen im Uhrwerk der westlichen Vernunft. Im Mai dieses Jahres feiern wir seinen 125. Geburtstag.

Wiechert, Förstersohn aus dem masurischen Kleinort (Kreis Sensburg), war ein Sproß der slawisch-germanischen Welt des alten Ostmitteleuropas, ein Studienrat und sensibler Konservativer von elitärem Schlag, dem das Pathos der Volksgenossen und das der Massendemokratie gleichermaßen wider den Strich ging. Ein Charakterzug, der ihn untauglich machte für die neuen Deutschlands, die ab 1933 sukzessive entstanden. In den Augen des staatstragenden Feuilletons fehlte und fehlt ihm das „Zeitgemäße“. Das war 1939, im Jahr der Veröffentlichung seines berühmtesten Romans „Das einfache Leben“, nicht anders als 2012.

Nun war Wiechert kein Reaktionär. Seine Helden sind nicht der schneidige wilhelminische Aristokrat oder der befrackte Bourgeois der Gründerzeit. In „Das einfache Leben“ ist es ein zweimal gescheiterter Marineoffizier namens Thomas von Orla. 1918 haben die aufständischen Matrosen ihn des Kommandos enthoben und ins Meer geworfen, fünf Jahre später in Berlin verpaßt er den Einstieg in die Goldenen Zwanziger. Eines Tages stolpert er über einen Vers im 90. Psalm: „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.“

Die Worte treiben ihn um, lassen ihm keine Ruhe. Und so flieht der Korvettenkapitän a.D. die überspannte Stadt, die morphiumsüchtige Ehefrau, die Abendgesellschaften, die falschen Hoffnungen, die ganze neue Zeit. Ziellos gen Osten bricht er auf, den Ort suchend, der seine Heimat werden soll. Tief in Masuren findet er ihn, eine Insel auf einem dunklen See inmitten eines Kranzes schwarzer Wälder – eine entrückte Welt in tragischer Idylle.

Orla unterschlägt sein Adelsprädikat und verdingt sich beim Gutsherrn, dem alten General von Platen, als Fischer. Von da an lebt er im Rhythmus der Jahreszeiten und auf dem Weg zu sich selbst. Dabei hat er sich bereits gefunden in dem Moment, als er die Stadt verließ und Fischer wurde. „Wenn man erkannt hat, daß man das Netzestellen und das andere besser kann als das Geschwaderführen, dann hat man eben das Bessere zu tun.“

Der große Krieg hat die Figuren des Romans gezeichnet. Umnachtet, mit dem Fahnenlied auf den Lippen, schlurft die Förstersfrau durch Haus und Garten; ihr junger Sohn ist im Geschützturm des Panzerkreuzers Seydlitz verbrannt, 1916 im Skagerrak. Zwei Wälder weiter drückt eine andere Mutter das Kreuz durch, wenn sie an ihre Söhne denkt. Fünf sind im Feld geblieben, der sechste und jüngste, Natango Pernein, ist das Sinnbild letzter aristokratischer Blüte in der frühen Zwischenkriegszeit, vor dem endgültigen Untergang. „Er liebte alles Hoffnungslose, und es schauderte ihn vor der unadeligen Zeit“, sagt die alte Gräfin nach seinem jähen Tod. Ein Melkerknecht hat ihren Sohn mit dem Knüppel erschlagen.

Nur zwei Figuren transzendieren die aussichtslose Zeit. Da ist der über hundertjährige Fischer Petrus, der wie Buddha vor seiner Hütte sitzt und sich noch an den Platen erinnert, der mit Napoleon 1812 über die Beresina kam. Wie Orla weiß Petrus, daß im Dienen Erfüllung liegt. Und da ist „das Kind“, wie der Autor auch die über Zwanzigjährige nennt, Marianne von Platen, die Enkelin des Gutsherrn, die nach dem frühen Tod beider Eltern auf dem Gut aufwächst. Ihre Liebe zum bald dreißig Jahre älteren Orla hält den reifen Mann in seiner Lebensbahn, und daß sie unerfüllt bleibt, gehört zu dessen elitärem Selbstverständnis. Verzicht rangiert über Besitz.

Den Roman durchrankt ein Themenkranz, der an die großen Russen erinnert, an Turgenjews „Adelsnest“ oder „Väter und Söhne“. Die alte Ordnung – kultiviert, überlegen, zivilisiert – weicht der jungen Tat. Auch bei Wiechert ist es der Sohn des Romanhelden, Joachim von Orla, der stellvertretend für seine Altersgruppe Distanz zur Generation der Verlierer nimmt. Die Jungen, das sind die Herren der neuen, der schnellen Zeit. War der Untergang vieler Kaiserreiche 1918 nicht der schlagende Beweis, wie abgewirtschaftet das Altüberkommene war?

Die Handlung endet zu Mittsommer 1935, wenige Wochen nach Gründung der neuen deutschen Kriegsmarine. Beschwingt sehnen die jungen Offiziere sich nach der baldigen Bewährung. Im Roman wirft die Blutmühle, der sie entgegengehen, nur zwischen den Zeilen ihre Schatten. Der Autor saß 1938 zwei Monate im KZ Buchenwald; er wußte, welche Zukunft sein Vaterland erwartete. „Zu Ende denken zu können ist ein schweres Los“, läßt er den klugen Pernein an einer Stelle sagen.

Das geschliffene Deutsch und der epische Duktus verleihen dem Roman etwas Suggestives, märchenhaft Verzaubertes. In seiner Demut vor dem Unvermeidlichen ist er aber von illusionsloser Konsequenz. So wie es in der Natur blüht und welkt, so tanzt und kämpft auch die Menschenwelt und geht zugrunde nach ihren naturgegebenen Gesetzen. „Die Schöpfung (…) ging ihren Gang. Sie streute aus und sammelte wieder ein. Das Maß ihrer Ernte blieb immer das gleiche, weil das Maß ihrer Saat das gleiche blieb.“

Eine Schwäche zeichnet den Roman: nicht ganz ehrlich zu sein. Die dürftige Fischerhütte im selben Bild wie Chopin und Schubert im Grafenschloß, die Wolfs- und Entenjagden, der abendliche Rotwein vor dem riesigen Kamin im Gutshof – der Autor unterschlägt uns die Exklusivität von Orlas Lebensentwurf. Das ist Einfachheit unter Edlen; die Vorrechte des Adels bilden die Folie von Orlas Existenz.

Doch verweht und vergangen ist die Zeit. Die Menschen sind noch ungleich, aber man mißt die soziale Durchlässigkeit immerhin schon nach Pisa-Punkten. Milliardäre können sich alles kaufen, nur das einfache Leben gibt es nicht mehr.

Wiecherts Roman ist gegen die Stadt geschrieben, gegen die Masse und die Moderne, gegen eine auf Bewegung, Geschwindigkeit und Effizienz versessene Epoche und gegen ihr materialistisches Prinzip. „Das Letzte, Kind, was man im Leben gewinnen kann,“ sagt Orla zu der jungen Marianne, „ist nichts haben zu wollen.“

Beinahe rücksichtslos treibt Wiechert seinen Helden in eine Form von lutherischer Selbstverwirklichung: „Eine einsame Schuld war besser als ein gemeinsames Behagen“. Ein schwieriger, sehr deutscher Satz, der doch nur die Ableitung aus dem Psalmvers ist: „Wir bringen unsere Tage zu wie ein Geschwätz.“

Im Jahrhundert der Aktivisten und Weltverbesserer galt Orlas Flucht einem Großteil der Kritik als Eskapismus, als hätte der Kapitän, indem er buchstäblich aus seiner Gegenwart austrat, sich vor einer Schuld gedrückt. Doch Orlas Motiv ist ein anderes: „Wer einmal die Phrase hinter sich gelassen hat, für den ist der Pflug oder das Ruder oder die Büchse oder der Spaten kein Ersatz (…), sondern die Wahrheit, eine einfache, unverdorbene und große Wahrheit.“

Ernst Wiechert: Das einfache Leben. Roman. Langen Müller, gebunden, 400 Seiten, 14,99 Euro

Foto: Jezioro Kalwa, Pasym (Passenheim) in Ermland-Masuren: Eine entrückte Welt in tragischer Idylle

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