© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Erbe gegen Umwelt, Gene gegen Erziehung
Biologische Wurzeln der Intelligenz: Eine späte „Klarstellung“ zur Sarrazin-Debatte
Niels Goerke

Dieter Zimmers „Klarstellung“ zur Frage, ob Intelligenz erblich sei, setzt mit ein paar Ohrfeigen ein. Opfer des altgedienten Wissenschaftsjournalisten, der über vier Jahrzehnte lang Leser der Wochenzeitung Die Zeit mit den Forschungsentwicklungen in den Human- und Naturwissenschaften vertraut machte, sind Sigmar Gabriel und Andrea Nahles. Hatten der SPD-Vorsitzende und seine Generalsekretärin doch im Herbst 2010 versucht, den Genossen Thilo Sarrazin mit dem Argument aus der Partei auszuschließen, sein „biologistisches Geschwätz“ über die genetische Determinierung geistiger Leistungsfähigkeit, verfochten in seinem Verkaufsschlager „Deutschland schafft sich ab“, sei mit dem Welt- und Menschenbild der SPD nicht vereinbar. „Das Leben ist offen“ und könne daher nicht vom „Erbgut“ fixiert werden, tönte die Germanistin Nahles gegen den „rassistischen Möchtegern-Darwin“ Sarrazin.

Für derartige, von umfassender Unkenntnis des Forschungsstandes zeugende Irreführungen der Öffentlichkeit watscht Zimmer beide Hobby-Genetiker genauso kräftig ab wie jene, die gleich Jörg Blech, Wissenschaftsredakteur beim Spiegel, ebenfalls als „Biologieverächter“ Stimmung gegen Sarrazin machten. Denn jedermann könne inzwischen sogar im Internetlexikon Wikipedia – als Extrakt angelsächsischer Intelligenzforschung – alles über biologische Wurzeln geistiger Fähigkeiten nachlesen.

In der Psychologie gehörten die Einsichten der Verhaltensgenetik spätestens seit Mitte der neunziger Jahre zum Lehrbuchstoff. Die einst so brisante Frage nach der Erblichkeit des Intelligenzquotienten (IQ) zähle heute zu den anthropologischen Fragen, die wie kaum eine andere als „gründlich geklärt“ gilt. An Gabriel, Nahles und ihre publizistischen Lautverstärker sind solche Fortschritte der Forschung indes vorbeigegangen. In grotesker Ahnungslosigkeit verträten sie daher unbekümmert ihr „unwissenschaftliches Weltbild“, das mit Konsequenz zu der sozial- wie christdemokratischen Erziehungs- und Bildungsdoktrin führte, die der Parole „Jeder kann alles lernen!“ folge.

Von ungefähr kommt dieses wissenschaftsfeindliche Hinterweltlertum der Politik- und Medienkaste freilich nicht. Tragen doch deutsche Mediziner und Biologen, die sich sonst gern ihrer „Weltoffenheit“ rühmen, an der Provinzialisierung des Diskurses zu Intelligenz und Erblichkeit eine erhebliche Mitschuld. Zimmer weist darauf allerdings nur an versteckter Stelle hin – in der kleingedruckten Vorbemerkung zu seinem Literaturverzeichnis. Deutschland habe sich nämlich aus diesem Forschungsgebiet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, „weitgehend ausgeklinkt“.

Daher lägen zum Thema nur wenige Bücher und Aufsätze deutschen Ursprungs vor. Und aus der „unübersehbaren reichhaltigen“ westeuropäischen wie angelsächsischen Produktion sei nur „ganz wenig ins Deutsche übersetzt“. Nur von einigen US-Streitschriften „gegen den IQ und dessen Erblichkeit“ fänden sich Übersetzungen, hingegen nur je ein Titel des US-Psychologen Richard Herrnstein und dessen deutsch-britischem Fachkollegen Hans Jürgen Eysenck. Nichts gebe es von den anderen Exponenten der Verhaltensgenetik wie James R. Flynn (beschrieb die später Flynn-Effekt genannte Zunahme der IQ-Werte in Industrieländern) oder Linda Gottfredson (Kodirektorin des „Delaware-Johns Hopkins Project for the Study of Intelligence and Society“).

Die „vielen Bücher“ des Erziehungspsychologen Arthur Jensen, der mit seiner These über den durchschnittlich niedrigeren IQ der schwarzen US-Bevölkerung („How Much Can We Boost IQ and Scholastic Achievement?“, erschienen 1969 im Harvard Educational Review/Vol. 39, No. 1, S. 1–123) für den ersten großen Skandal in der IQ-Debatte sorgte, könne man nur im Original lesen.

Der Widerstand gegen diese Form der Aufklärung über die conditio humana fiel auch in den USA heftig aus. Anonyme Morddrohungen gingen bei den „IQ-Rassisten“ ein, und Jensen habe sein Seminar über Intelligenztheorien nur unter Polizeischutz abhalten können. Die Welle schlug ähnlich hoch, als Herrnstein und Charles Murray (American Enterprise Institute) 1994 Kalamitäten wie Arbeitslosigkeit, Kindervernachlässigung oder Kriminalität auf den unterdurchschnittlichen IQ des afroamerikanischen Proletariats zurückführten – verbunden mit dem Ratschlag, deren Vermehrungsrate einzudämmen.Ungeachtet „politisch korrekter“ Kampagnen und gesetzgeberischer Gegensteuerung in den USA (Stichwort: Affirmative Action), stehen dort, im Unterschied zu Deutschland, Forschungen und öffentliche Kontroversen zu dieser Problematik aber nie zur Disposition. Hierzulande betritt „vermintes Gelände“, wer es angesichts der NS-Vergangenheit wage, das Thema aufzugreifen. Zimmer räumt selbst ein, sein journalistisches Ethos verraten und sich an der Tabuisierung von Erbtheorien der Intelligenzforschung beteiligt zu haben: „Aus Respekt vor diesem Tabu habe ich seit Anfang der 1980er kein Wort mehr über Intelligenzunterschiede zwischen ethnischen Gruppen verloren.“

Aus solcher Selbstzensur befreit sich Zimmer nicht einmal im vorliegenden Werk, obwohl er einräumt, deutsche Leser könnten mittlerweile „antirassistisch gefestigt genug“ sein, um Erschütterungen ihres auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gegründeten sozialliberalen Kosmopolitismus zu verkraften. Denn gerade das mit „Heikel, heikler am heikelsten“ überschriebene Kapitel über genetisch bedingte Gruppenunterschiede besteht nur aus Zitaten, die das Pro und Contra des außerdeutschen Wissenschaftlerstreits spiegeln sollen, um den Autor eigener Stellungnahme zu entheben.

Trotzdem tastet sich Zimmer zu den Reflexionen von Luigi Luca Cavalli-Sforza (Emeritus der Stanford University) über die „jüdische Rasse“ vor, stellt die absehbare Identifizierung von „Intelligenz-Genen“ von Kollektiven in Aussicht und weist hin auf jüngere Erörterungen über den Zusammenhang nationaler Intelligenzunterschiede und wirtschaftlicher Leistungsungleichheiten, um auf ein „beruhigendes Fazit“ ostentativ zu verzichten.

Dank Zimmers Arbeit bekommt nun auch der deutsche Leser tiefe Einblicke in Geschichte und aktuelle Streitstände der Intelligenzforschung, die ihm bisher durch „Verschwörung des Schweigens“ entzogen waren. Zumindest auf diesem bildungs- und sozialpolitisch höchst praxisrelevanten Wissenschaftsfeld konfrontiert ihn der Autor zugleich mit einer Maxime Berliner Regierungskunst: das gesellschaftliche Leben an der „Wahrheit vorbei zu organisieren“.

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, gebunden, 316 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Die Zunahme der IQ-Werte in den westlichen Industrieländern stagniert: Deutschland hat sich aus dem diesem Forschungsgebiet ausgeklinkt

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