© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Pankraz,
Wilhelm Wundt und die Volksgeister

Haben Völker eine Seele? Muß man also in der Wissenschaft vom Menschen – neben der Individualpsychologie – auch eine Völkerpsychologie etablieren, verspricht das Erkenntnisgewinn und praktischen Nutzen? Die Frage ist seit spätestens hundert Jahren positiv entschieden. Im März 1912 zeigte der Kröner Verlag auf der Leipziger Buchmesse eine Neuerscheinung, die sofort seriöse Sensation machte und vor allem die studentische Jugend hellauf begeisterte. Ihr Titel: „Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit“.

Verfasser war Professor Wilhelm Wundt (1832–1920) von der Universität Leipzig, von Haus aus Mediziner und eine erstrangige Kapazität im europäischen Geistesleben. Er war der Gründer jenes legendären Leipziger Instituts für experimentelle Psychologie von 1879, in dem sich damals binnen kürzester Zeit ein internationaler Kreis illustrer junger Forscher versammelte (unter ihnen Emil Kraepelin, Granville Hall und James McKeen Cattell) und dessen Hauptanliegen es war, den Humanismus à la Goethe und Wilhelm von Humboldt und den Positivismus à la Auguste Comte zusammenbringen.

Kein einziger Mensch, so lehrten Wundt und die Seinen, ist eine bloße Maschine, er ist vielmehr eine geistige Innerlichkeit, ein Gefühlsstrom, den man weder simpel berechnen noch mathematisch optimieren kann; man kann ihn nur ausleuchten und vorsichtig in ein loses Schema einordnen. Und was für das einzelne Individuum gilt, das gilt selbstverständlich auch für ganze Völker, denn diese bestehen aus Menschen und entwickeln notwendig kollektive Gefühls- und Seelenlagen.

Was die Völkerpsychologie von der Individualpsychologie unterscheidet, so weiter Wundt & Co., ist die vorab kulturhistorische Dimension ihres Forschungsansatzes. Völkerpsychologie ist primär Erkundung zeitlich sich lang hinziehender Traditionslinien, kollektiver Diskurse und lokaler Verabredungen. So wie es einen „Zeitgeist“ und einen „Weltgeist“ gibt, so gibt es auch – wie schon Hegel herausgestellt hat – einen „Ortsgeist“ und einen „Volksgeist“, Gebilde von übereinstimmenden, historisch herausgebildeten Wertvorstellungen, die in der Regel sehr dauerhaft sind und vielen äußeren Zumutungen widerstehen.

Wohlgemerkt: Mit Politik hatte die Wundtsche Völkerpsychologie nichts zu run. Sie war Bestandteil der damals im ganzen Abendland, seit Herder und Goethe vor allem in Deutschland mit Eifer betriebenen Gefühlserforschung auf Völker- oder Stammesebene, die Wilhelm von Humboldt seinerzeit als erster auf den Begriff brachte. Er sprach von der Notwendigkeit, endlich den schöpferischen Sinn für das „Sprachfeld“ der Völker zu schärfen, auf dem sich Gefühl, Verstand und Wort „zu dem vereinigen, was man einzig Kultur und Lebensstil nennen kann“.

Trotzdem gilt es natürlich zu erkennen: Volksgeist heißt auch Absonderung und Selbst-adelung. Und jedes Volk von einigem Format hegt den Mythos eines gewissen „Auftrags“, den nur es selbst leisten kann. Die Amerikaner glauben, sie müßten der ganzen Welt die Demokratie bringen (George W. Bush: „nation building“). Die Russen sind, laut Dostojewski, dazu bestimmt, den christlichen Glauben gegenüber dem säkularisierten Westen wachzuhalten. Die Franzosen haben es mit der „Clarté“, dem Licht der „puren“ Vernunft, das speziell bei ihnen leuchte usw. usw..

Die deutsche Variante stammt bekanntlich von Friedrich Schiller und nimmt sich durchaus gemäßigt aus. Ihre Pointe liegt just darin, daß die Deutschen an sich, von Haus aus, keinen speziellen Volkscharakter haben und folglich auch keine naturbedingte, gar genetisch vorgegebene Priorität gegenüber irgendeinem anderen Volk. Sondern sie gewinnen Priorität allenfalls, indem sie sich selbst erziehen, und zwar ästhetisch erziehen, ohne jeden Rohrstock, einzig durch die Aufrichtung eines überdimensionalen lebenden Bildes, an dem sich andere orientieren können, eines Bildes aus „Anmut und Würde“, wie Schiller sagt.

Ist das anmaßend, „geistes-imperialistisch“, wie immerhin Paul Valéry, an sich ein Freund der deutschen Klassik, einmal gesagt hat? Andere, weit kleinere Geister als Valéry behaupten das ja auch, oft übrigens in schnödester politischer Absicht. Sie schimpfen die Deutschen „geborene Oberlehrer“, sie kichern oder empören sich darüber, daß sie immer die Klassenbesten sein wollen, sogar beim Sündenbegehen und anschließend beim Vergangenheit- bewältigen. Diese ewige Oberlehrerei sei entweder wirklich der deutsche Volksgeist, oder ihre Klassiker hätten es ihnen eingeredet. Penetrant bleibe es.

Dazu wäre zu sagen: Notorische Besserwisser und Musterschüler sind in der Tat überall unbeliebt, und so auch in der Politik, selbst wenn sie in der Sache recht haben. Das mit erhobenem Zeigefinger geübte Ansprechen von heiklen Tatbeständen wird als Unhöflichkeit empfunden, manchmal gar als Provokation, auf die man handfest reagieren muß. Bündnisse ihrerseits entstehen aus gemeinsamen Interessen, nicht daraus, daß der eine erklärt, er habe gar keine Interessen, repräsentiere stattdessen das Interesse aller.

Freilich kann man sich daran gewöhnen, so wie man sich auch an andere Volksgeister mit ihren spezifischen Macken gewöhnt. Schlimm für die Deutschen wird es erst dann, wenn sie die Zustände, die sie anderen oberlehrerhaft um die Ohren hauen, selbst angerichtet haben, so wie das in der gegenwärtigen Euro-Krise passiert ist.

Die Einführung des Euro war nicht zuletzt ein dummes Beiseiteschieben der von Wundt so eindrucksvoll gelehrten Völkerpsychologie. Zuerst hat man die Seelen der europäischen Völker in völliger Ignoranz über einen einzigen, den ökonomischen Leisten geschlagen, und jetzt kommt man ihnen mit dem Vorschlag, sie sollten sich, um den Schaden zu reparieren, gefälligst nach dem deutschen Modell richten. Das ist keine Oberlehrerei mehr, das ist reiner, mit Milliardensummen verbrämter Zynismus.

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