© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Bekenntnis zur ganzen deutschen Geschichte
Zur Debatte gestellt: Mit Umbenennungen aus politisch korrekten Gründen muß endlich Schluß sein
Rolf Stolz

Der Alliierte Kontrollrat verfügte 1947, alle Straßennamen sollten verschwinden, die an den Zweiten Weltkrieg erinnerten und nannte dabei ausdrücklich den 1934 verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg. Nun ist die Geschichte kein Weihnachtsmärchen und das Pantheon der großen Männer und Frauen eines Volkes keine Versammlung von Heiligen und netten Kumpeln. Viele, zu viele Menschen in diesem Land hätten es allerdings gern so. Sie versuchen, die schwierige Geschichte und Gegenwart gewaltsam ihren „Idealen“ anzupassen, die nichts anderes sind als eine Resterampe aus Borniertheit, Bequemlichkeit, Bosheit.

Unter diesen Reinheitsfanatikern finden sich Politiker und Zivilcouragierte jeglicher Couleur dieser Welt, also die superkorrekt funktionierenden Funktionäre, aber auch Blockwart-Spießer und Denunziationsbegeisterte aus allen politischen Lagern. Sie wollen die große Säuberung des politischen Lebens, des Welt- wie des Stadtbildes. Sie wollen von der Geschichte und ihren Widersprüchen so wenig wie möglich wissen. Sie wollen eine Geschichte, die als Einbahnstraße geradeaus auf ihre private Wunsch-Utopie zuläuft. Sie wollen durchsetzen, daß nur noch Geltung hat, was ihrer politischen Familie in den Kram paßt. Sie meinen genau zu wissen, wie in den letzten dreitausend Jahren jeder Handelnde sich gefälligst hätte verhalten sollen – wer dann von dieser ebenso fiktiven wie willkürlichen Linie abweicht, der wird in den Orkus der Unpersonen und zweihundertprozentigen Verbrecher verbannt.

Ein besonderer Schwerpunkt ist fast siebzig Jahre nach seinem Untergang die Bewältigung des Nationalsozialismus und Faschismus durch Verbalkosmetik, die mit wahrhaft faschistoider Demagogie gegen den Mehrheitswillen der Bürger durchgesetzt wird. Daß der Dichter Hermann Stehr (1864–1940) als Wahlredner der Deutschen Demokratischen Partei seinen 1922 von Rechtsradikalen ermordeten Freund, den Außenminister Walther Rathenau, unterstützt hatte und diese langjährige Freundschaft im postum 1946 erschienenen Buch „Hermann Stehr. Walter Rathenau. Zwiegespräche über den Zeiten. Geschichte einer Freundschaft in Briefen und Dokumenten“ nachprüfbar ist, hinderte eine Münsteraner Polit-Kommission nicht, einstimmig die Umbenennung des Stehrweges zu verlangen. Zur „Begründung“ hieß es, Stehr habe „sehr früh bereits die NS-Politik voll unterstützt“. Dabei gesteht selbst die in solchen (und anderen) Fällen nun wahrlich nicht objektive Wikipedia-Enzyklopädie Stehr zu: „Entzog sich weitgehend der Vereinnahmung und schrieb auch keine Lobgesänge auf Adolf Hitler“.

Daß Paul von Hindenburg Verdienste als Militärführer im Ersten Weltkrieg hatte, daß er – 1925 vom Volk gewählt – bis 1930 die Weimarer Verfassung trotz seiner persönlichen monarchistischen Überzeugungen verteidigte, daß er sich lange gegen die Ernennung Hitlers wehrte und erst 1933, körperlich und geistig schon nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, dem zustimmte (bei einem Kabinett mit lediglich zwei NS-Ministern), gedrängt und getäuscht von seinen Beratern und dem Schaumschläger Papen – all das zählt nicht für diejenigen, die rigoros Hindenburgplätze umbenennen wollen. Sie wollen es nicht wissen, sie wollen als schreckliche Vereinfacher nur platte Entweder-Oder-Antworten, und diese sollen dann nach Bauchgefühl und zusammengeklaubten Zitaten fix bestellter und gut bezahlter Auftragsgutachten gegeben werden.

Die Münsteraner Kommissare wollen auch, daß die große Dichterin Agnes Miegel aus der Öffentlichkeit verschwinden soll, weil sie angeblich „eine Stütze des NS-Regimes im Bereich Kultur war und den ‘Führer’ in ihren Werken verherrlichte“. Diese Dichterin, deren Andenken der 2010 verstorbene jüdische Dichter Sem Simkin über Jahre in Königsberg und in ganz Rußland durch Übersetzungen ins Russische und Aufsätze wiederbelebte, soll im Stil der Bücherverbrennungen verfemt und verbannt werden – und mit ihr soll zugleich die Erinnerung an Ostdeutschland und das Menschheitsverbrechen der Vertreibungen ausgelöscht werden.

Die Umbenennungshysterie der Ultralinken und der Linksliberalen richtet sich gegen Ernst Moritz Arndt, Hans Pfitzner, Werner Mölders, den „Kriegsverbrecher“ Erwin Rommel, den großen Reformpädagogen Peter Petersen (seit 1946 SPD-Mitglied und 1948 aus Protest aus der SED ausgetreten, angeblich ein „Rassist“) und viele andere. Selbst Johann Gottlieb Fichte, letztlich einer der Denker, aus denen Marx seine Philosophie entwickelte, wird attackiert.

Allerdings finden sich auch rechtsreaktionäre Gegenstücke. Da wird zum Beispiel gegen den „Bürgerkrieger“ Karl Liebknecht gegiftet und empfohlen, die Frankfurter Karl-Liebknecht-Schule umzubenennen – als „Ersatzmann“ wird Heinrich von Kleist empfohlen (JF 52/11-1/12). Dieser wurde zwar in Frankfurt an der Oder geboren, nur war der Dichter bekennender Aristokrat, Anti-Demokrat und Franzosenfresser („Schlagt sie tot …“), also von Demokratie und Völkerfreundschaft kaum weniger weit entfernt als der (Ex-)Sozialdemokrat Liebknecht.

Nur wer die tragische Geschichte der Arbeiterbewegung und der deutschen Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts in ein Gut-Böse-Schema preßt, nur wer die fragwürdig-abenteuerliche Forderung der „Diktatur des Proletariats“ von 1918 gleichsetzt mit der Leninschen und Stalinschen Parteidiktatur, nur wer bewußt oder unbewußt zur Freude unserer gemeinsamen Gegner die demokratische Rechte gegen die demokratische Linke hetzen will, kann die Umbenennungshysterie anheizen. Auch die Heroen der Rechten hatten im übrigen nicht immer nur recht. Sie waren durchaus fähig zum Irrtum. Aber viele von ihnen wie Ernst Niekisch oder der jugendliche Fememörder-Helfer und spätere Antimilitarist Ernst von Salomon waren fähig dazuzulernen.

Die Notwendigkeit einer Sammlung aller freiheitsliebenden Gegner des Berliner und Brüsseler Establishments quer zu den alten Fronten und gegen alle staatlichen Unterwanderungs- und Spaltungsmanöver verlangt ein Bekenntnis zum ganzen Deutschland und zur ganzen deutschen Geschichte. Rechte wie Linke brauchen bei aller im einzelnen berechtigten Kritik Respekt gegenüber den großen Deutschen, die weder NS-Schergen noch Mauermörder waren. Wenn Deutschland überleben soll, dann muß mit vielen anderen geistigen Erkrankungen die grassierende Umbenennungssucht geheilt und das geschichtliche Erbe verteidigt werden gegen die Gedanken- und Gedächtnispolizei.

 

Rolf Stolz, Jahrgang 1949, engagierte sich seit 1967 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und 1969/70 in der KPD/ML. 1980 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen und wurde Mitglied des Bundesvorstandes. Heute lebt er als Publizist in Köln.

Foto: Hindenburgplatz, Karl-Liebknecht-Straße: Im Visier von Umbenennern

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