© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Politischer Propagandist
Kino: „Sergej in der Urne“
Claus-M. Wolfschlag

Einem seltsamen politischen Strippenzieher ist der Dokumentarfilm „Sergej in der Urne“ gewidmet. Dem 1883 als russischen Diplomatensohn geborenen Biologen und Zellforscher Sergej Tschachotin fehlte offenbar das Zeug zum ganz großen Wissenschaftler, weshalb er bei sich bietenden Gelegenheiten seine Energien auf dem Feld politischer Mobilisierung verströmte.

Hierin hatte er ein gewisses Talent, und kam stets auch eher glimpflich davon. 1902 agierte er als linksorientierter Student gegen den Zaren und wurde ausgewiesen. Nach seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg 1913 kooperierte er mit dem zaristischen Kriegsministerium. Nach der Oktoberrevolution flüchtete er über die Ukraine nach Heidelberg, wo er einen Lehrstuhl annahm.

Doch in Deutschland erfüllte ihn nun die zunehmende NS-Propaganda mit Sorge. Er geriet in Kontakt zu dem SPD-Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff und stellte fortan seine Kreativität in den Dienst des Sozialismus. So war es Tschachotin, der die „antifaschistische“ Symbolik der SPD-dominierten „Eisernen Front“ entwarf: Drei Pfeile, die dem Hakenkreuz entgegengestellt wurden und es in kombinierter Darstellung als laufende, die Flucht antretende Füße aussehen ließen. „Der Sozialismus zerstört das Hakenkreuz“, sollte dieses frühe Beispiel „antifaschistischer“ Symbolik ausdrücken. „Er war in der sozialistischen Partei so etwas wie Dr. Goebbels bei der NSDAP“, äußert sein Sohn Petja in dem Film. Und Sohn Wenja: „Seine Dialektik war ein Verführungskunststück.“

Doch die träge SPD-Führung folgte dem Enthusiasten nur wenig. 1933 wurde Tschachotin von der Universität Heidelberg entlassen, da seine politische Haltung nun „absolut mißbilligt“ wurde. Im Pariser Exil wurde er während des Zweiten Weltkriegs von der Gestapo verhaftet, aber bald wieder mit Hilfe deutscher Wissenschaftskollegen freigelassen. Nach dem Krieg gegen die Atombombe engagiert, verstieg er sich in die Utopien einer Weltföderation unter Führung von Wissenschaftlern. 1958 wanderte er in die Sowjetunion aus, da er glaubte, nach Chruschtschows Amtsantritt würde nun „endlich das ersehnte Paradies aufgebaut“. Zwei Jahre später riet er seinem Sohn desillusioniert ab, ihm nachzukommen. Sein Sohn Wenja tituliert ihn postum als „Psychopathen“, der von politischen „Wahnideen“ beherrscht war.

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