© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Das Gottesteilchen ist ein Geisterteilchen
Wenn Peter Higgs recht hätte, müßte ein Standardmodell der Physik vielleicht völlig revolutioniert werden
Michael Manns

Zwischen dem französischen Jura und dem Genfer See befindet sich die größte Wissenschaftsmaschine, die jemals von Menschenhand gebaut wurde. 15 Milliarden Euro hat sie gekostet, Tausende von Forschern arbeiten dort. Sie arbeiten an dem größten Experiment aller Zeiten. Ein Experiment, das eine fundamentale Frage klären soll: Warum ist die Welt so, wie sie ist – und nicht ganz anders? Warum haben zum Beispiel die Elementarteilchen genau die Massen, die sie haben und keine andere? Warum ist das Elektron fast zweitausendmal leichter als das Proton? Warum hat das Photon überhaupt keine Masse? Die Antwort auf diese Frage würde die Fundamente der Physik revolutionieren – gleichgültig wie sie ausfällt.

Konkret jagen die Fahnder des Mikrokosmos nach dem Higgs-Teilchen. Es soll quasi schöpferische Fähigkeit haben. Dieses Zauberpartikel soll (genauer das Higgs-Feld) den Teilchen die jeweilige Masse verleihen. Wegen dieser kreativen Potenz wird es auch das Gottesteilchen genannt. Benannt wurde es nach dem britischen Physiker Peter Higgs (Emeritus der University of Edinburgh), der sich vor 48 Jahren rein theoretisch mit diesem Teilchen beschäftigte.

Suche nach Higgs-Teilchen und fünfter Naturkraft

Wie funktioniert Higgs – in einer Modellvorstellung? Stellen Sie sich eine Parteiversammlung vor. Der Saal ist voll. Alle warten auf die Vorsitzende. Sie tritt ein, will nach vorne ans Rednerpult. Doch sofort stürzen die Parteifreunde auf sie, wollen ihr die Hand schütteln, bitten um ein Autogramm. Ihr Schritt wird immer langsamer, sie wird immer träger, da eine Traube von Menschen an ihr hängt. Jetzt kommen Sie als unbekanntes Parteimitglied. Keiner wird Sie beachten, ungehemmt bleibt ihr Bewegungsablauf, bis sie an ihrem Platz sind. Die Parteiversammlung als wogendes Feld hat dem ersten Teilchen ziemliche Masse verliehen. Im zweiten Fall, in Ihrem Fall, ist nichts geschehen. So kann man sich die Wirkung des Higgs-Feldes vorstellen.

Um das Higgs-Teilchen nachzuweisen, lassen die Physiker im LHC immer wieder Protonen mit verschiedener Energie aufeinanderprallen. Durch die Wucht des Aufpralls werden neue Teilchen erzeugt, die die Forscher mit ihren riesigen Detektoren nachweisen. Das gesuchte Higgs-Teilchen können sie nicht direkt entdecken, weil es vermutlich sehr schnell wieder zerfällt.

Sie können das Teilchen daher nur statistisch nachweisen, als ungewöhnliche Häufung von Zerfallsprodukten bei einer bestimmten Energie. Doch die weltweite Fahndung, es ist überhaupt die größte Suchaktion in der Geschichte der Physik, war bisher ergebnislos. Ist das Gottesteilchen ein Geisterteilchen? Doch Ende des Jahres feuerte CERN gekonnt die mediale Erregungsmaschine an und kündigte eine Überraschung an.

Zwei Forscherteams am Large Hadron Collider (LHC) in Genf gaben dann bekannt, daß sie die mögliche Masse des scheuen Teilchens durch ihre Experimente stark eingrenzen konnten. Zudem entdeckten beide Teams unabhängig voneinander verdächtige Signale, die auf eine relativ niedrige Higgs-Masse von 125 Gigaelektronenvolt hindeuten. Das entspricht dem 133fachen der Masse eines Protons.

Also man hat Indizien, man hat auffällige Spuren, aber es gibt keinen Durchbruch. So versprach Fabiola Gianotti, die Sprecherin einer der Forschergruppen: „Im Augenblick können wir noch nichts mit Sicherheit sagen, aber 2012 werden wir das Rätsel lösen.“ Der inzwischen 82jährige Higgs verfolgte die Veranstaltung mit seinen früheren Kollegen von der Universität Edinburgh übers Internet. „Ich freue mich darauf, 2012 mehr davon zu hören.“ Ansonsten blieb er gelassen: „Ich muß mich jetzt nicht sinnlos mit Whisky betrinken, aber auch noch keine Flasche Champagner öffnen.“

Was den Forschern Hoffnung macht: Die Häufung bei 125 Gigaelektronenvolt (GeV) tauchte unabhängig voneinander in mehreren Experimenten am LHC auf. Wenn sie das Higgs-Teilchen gefunden haben, wollen die Forscher seine Eigenschaften genauer untersuchen – zum Beispiel, um herauszufinden, woraus die rätselhafte dunkle Materie besteht, die 80 Prozent der Masse im Weltall ausmacht. Sollte das Higgs-Teilchen jedoch auch im verbleibenden Energiebereich nicht auftauchen, ist die Zeit reif für eine neue Physik. Das Standardmodell, das die Welt der Elementarteilchen bislang hervorragend erklären konnte, müßte dann erweitert oder vielleicht sogar völlig revolutioniert werden.

Jedenfalls ist die Revolution erst mal ausgeblieben; 2011 wurden ja mehrmals die Fundamente der Wissenschaft – fast! – revolutioniert. Aber es blieb bei Ankündigungen. Im April berichteten US-Forscher, sie hätten Hinweise auf eine neue, bisher unbekannte Grundkraft der Natur gefunden. Bislang kennen wir vier: Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft. Doch als das Experiment im Fermilab bei Chicago wiederholt wurde – Fehlanzeige. Die Forscher wurden dann sehr kleinlaut.

Dann machte CERN wieder von sich reden. Elementarteilchen (Neutrinos) waren vom Kernforschungszentrum in Genf 730 Kilometer durch die Alpen nach Italien gejagt worden. In einem unterirdischen Labor unter dem Gran-Sasso-Massiv hatte man sie aufgefangen. Dann kontrollierte man ihre Geschwindigkeit: 299.798,454 Kilometer pro Sekunde waren sie schnell. Zu schnell; denn damit waren sie 0,002 Prozent schneller als die Lichtgeschwindigkeit!

War damit Einstein widerlegt? Seine Relativitätstheorie beschädigt? Fordert diese doch, nichts bewege sich schneller als das Licht. Bis heute fehlt eine Bestätigung des Neutrino-Experimentes von unabhängiger Seite. Kein Higgs-Teilchen, keine fünfte Naturkraft und keine Überlichtgeschwindigkeit. Aber das Jahr hat ja erst angefangen.

 

Großforschungseinrichtung CERN

Die im Kanton Genf beheimatete Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) wurde 1954 gegründet. Bekannt wurde sie aber mit ihren großen Teilchenbeschleunigern zur Erforschung des Aufbaus der Materie. Die Größe der Beschleuniger, und damit ihre Energie, mit der winzigste Teilchen zur Kollision gebracht werden, wuchs ständig. Je höher die Energie beim Zusammenstoß ist, desto exotischer sind die Teilchen, die dabei entstehen. Nachgewiesen werden sie mit zum Teil gigantischen Teilchendetektoren. Von 1989 bis 2000 war der Large Electron-Positron-Collider (LEP) in Betrieb. Für diesen ringförmigen Beschleuniger wurde ein unterirdischer Tunnel mit einer Länge von 27 Kilometern gebaut. Diese Röhre wurde auch für den Large Hadron Collider (LHC) verwendet, der im September 2008 in Betrieb genommen wurde. Die bekannteste Anwendung, die aus dem CERN hervorgegangen ist, ist wohl das World Wide Web (WWW). Der Brite Tim Berners-Lee entwickelte es Ende 1990, ursprünglich um Physiker in aller Welt mit den Daten aus den Beschleuniger-Experimenten versorgen zu können.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen