© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

„Abzug? Nicht im nächsten Jahrzehnt“
Nach der Koranverbrennung eskaliert am Hindukusch die Lage. US-Soldaten sterben. Die Bundeswehr zieht sich zurück. Der Afghanistan-Experte Reinhard Erös bilanziert die Ereignisse und bezweifelt die Versprechungen der Politik.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Erös, die Bundeswehr hat angesichts der Unruhen ihr Lager im nordafghanischen Taloqan Ende letzter Woche vorzeitig geräumt. Ist das das richtige Signal?

Erös: Signal an wen? An jene siebzig Prozent der Deutschen, welche den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan parteiübergreifend seit langem ablehnen? An jene Parlamentarier, die parteiübergreifend mit fünfundsiebzig Prozent den Einsatz auch weiterhin befürworten? An jene Soldaten, die ihren Auftrag noch lange nicht erfüllt sehen und in Afghanistan bleiben möchten? An jene Angehörigen, die ihre Männer, Söhne, Väter schnellstmöglich zurückhaben wollen? An jene Afghanen, die vom Einsatz der Isaf seit Jahren mit Millionen Dollar profitieren? An jene Afghanen, welche die Bundeswehr seit Kunduz im September 2009 für einen feigen Haufen halten, der, wenn es ernst wird, die US-Bomber zu Hilfe ruft, statt selbst zu kämpfen. An jene Afghanen, die den Westen, Isaf, die USA für alles Elend im Land verantwortlich machen? An die Aufständischen, die baldmöglichst die Macht in Kabul übernehmen wollen? An die Söldner von DynCorp, MPRI, Academi – vormals „Xe Services LLC“, vormals Blackwater – und zwei Dutzend anderer mit insgesamt etwa 75.000 Mann in Afghanistan, die sich am Hindukusch dumm und dusselig verdienen?

Berlin beschwichtigt, das Lager Taloqan sei sowieso „unbedeutend“ gewesen. Also alles nicht so schlimm?

Erös: Ich glaube nicht, daß die nächtliche Flucht hochgerüsteter Bundeswehr-Elitesoldaten vor einem Steine werfenden Mob – unter Zurücklassung sämtlichen schweren Geräts – bei den Afghanen als verheerendes Signal gewertet wurde.

So sehen das allerdings etliche Kommentatoren hier in Deutschland.

Erös: Die Paschtunen halten die Bundeswehr seit 2009 sowieso für eine Truppe, die kaum aktiv kämpft, bei Gefahr die Amerikaner zu Hilfe ruft oder sich in sichere Gefilde zurückzieht. Der Kampfwert unserer Soldaten wird von den Paschtunen ähnlich dem der italienischen Truppen im Westen des Landes eingeschätzt.

Was ist mit dem ehemals guten Ruf, den die Deutschen in Afghanistan genossen?

Erös: Er ist – vor allem seit Kunduz 2009 – erheblich geschrumpft, aber noch vorhanden. Unsere Politik muß den (noch) guten Namen Deutschlands endlich nutzen und nicht nur hilflos dem großen Bruder, der seine Reputation verbraucht hat, ängstlich hinterherlaufen.

Wäre es aber, hätte der kommandierende deutsche Offizier in Taloqan Stärke gezeigt, nicht vielleicht zu Toten gekommen?

Erös: Tote bei wem? Unter unseren militärischen Führern vor Ort gilt der ungeschriebene Befehl aus Potsdam, alles zu tun, um eigene Verluste zu vermeiden. Unabhängig davon, wie sich dies auf die – eigentlich zu schützenden – Afghanen auswirkt. Unnötige Verluste bei der eigenen Truppe zu verantworten, bedeutet das Ende der Karriere. Kollateralschaden bei den Einheimischen anzurichten, ist dagegen eine eher „läßliche“ Sünde.

Der tiefere Grund der Unruhen ...

Erös: ... war die nach wenigen Stunden erfolgte landesweite Bekanntgabe der Verbrennung von Koranschriften in der Verantwortung des US-Militärs in Bagram.

Ja, aber ist das wirklich der Grund dafür, daß ganz Afghanistan mit einem Schlage „außer Rand und Band gerät“, wie das ein ARD-Korrespondent formuliert hat?

Erös: Die tieferen Gründe sind vielgestaltig: Wut und Haß auf die USA, medial weltweit beachteter Kampf gegen die Besatzer, seit Jahren dramatisch zunehmendes Elend der Mehrheit der Bevölkerung und die dafür vermeintlich oder auch tatsächlich Verantwortlichen, und vor allem das Ausnutzen dieser zum Teil nachvollziehbaren Gründe durch religiöse Fanatiker unter den Aufständischen

Warum wußten die US-Soldaten nicht, daß es zu Empörung führen würde, den Koran per Müllverbrennung zu entsorgen?

Erös: Ich war nicht dabei und kenne die Täter nicht. Ich erlebe aber regelmäßig, daß bei den US-amerikanischen Soldaten im Osten des Landes Sprach- und Kulturkompetenz generell nicht vorhanden und selbst eine Grundsensibilität gegenüber dem Wertekodex der Paschtunen wenig ausgeprägt sind. Noch erinnerlich sind uns die auf frisch „erlegte“ Leichen vermutlicher Taliban urinierenden „Elite“-Soldaten der US-Marines und das Filmen dieser Leichenschändung. Ein US-Gouverneur bezeichnete dies dann auch noch für einen „Dumme-Jungen-Streich“. O sancta simplicitas!

Sie fordern seit Jahren den Abzug der westlichen Truppen aus dem Land.

Erös: Ja, ich befürworte in der Tat seit zehn Jahren den Abzug ausländischer Soldaten; aber nicht isoliert nur den Abzug. Genauso energisch fordere ich die politische Eindämmung islamistischer Ideologie und Kräfte saudi-arabischen Ursprungs, massives politisches Einwirken auf die Afghanistan-Politik von Islamabad und New Delhi. Ich fordere nicht nur, sondern arbeite selbst aktiv vor Ort: Mit etwa 1.900 Afghanen auf unserer Lohnliste unterstütze und betreibe ich den Wiederaufbau eines seit 33 Jahren vor allem durch ausländische Mächte zerstörten Landes mit seinen tapferen, ungeheuer widerstandsfähigen Menschen.

Mit Ihrer Initiative „Kinderhilfe Afghanistan“ engagieren Sie sich seit Jahren wohltätig am Hindukusch. Würde ein Abzug Ihr Projekt nicht zerstören?

Erös: Nein, im Gegenteil. Unsere Arbeit in den Ostprovinzen seit dem Sturz der Taliban leidet vor allem unter den Militäraktionen, den Kollateralschäden und ihren Folgen und dem Verhalten der US-Truppen gegenüber der Bevölkerung. Ausländische Soldaten wirken wie Magnete auf das „Blei“ der Aufständischen. Ich rechne aber nicht mit einem kompletten Abzug, sondern mit einer Reduzierung der Kopfstärke. Und dies auch nicht, weil „Mission accomplished!“, sondern weil die Unterstützung an der „Heimatftront“ massiv bröckelt. Dort will niemand mehr die ungeheuren Kosten – eine Million Dollar pro Soldat pro Jahr – tragen, wenn schon zu Hause kein Geld mehr vorhanden ist, um zerfallende Schulen und Straßen zu reparieren.

Aber die Bundesregierung hat versprochen, die Kampftruppen der Bundeswehr bis 2014 heimzuholen.

Erös: Wenn 2014 nur unsere Kampftruppen abgezogen sind, müssen unsere verbleibenden „Nicht-Kampftruppen“ sich entweder selbst schützen oder das Leben unserer Soldaten muß durch Kampftruppen aus anderen Ländern, etwa durch die 195 Soldaten aus der Mongolei – derzeit in Faizabad – sichergestellt sein. Kann sich das jemand wirklich vorstellen?

Im Mandat des Bundestages heißt es in der Tat, Abzug nur „soweit es die Lage erlaubt“. Also ein Freibrief, Motto: „Abzug ja – oder vielleicht auch nicht“?

Erös: Eindeutig ja. Minister de Maizière hat auch hier juristisch sauber formuliert und sich politisch abgesichert.

So mancher vermutet, die deutsche Afghanistan-Politik orientiere sich sowieso nicht an der Situation im Land, sondern allein am Verhalten der USA.

Erös: Die deutsche Afghanistan-Politik seit 2002 folgt den Prioritäten: Bündnistreue und Stabilität der Nato, Erhalt und Ausbau der transatlantischen Freundschaft, parteiübergreifende Zustimmung (außer der Linken), innen- und gesellschaftspolitischer Minimalschaden, geringstmögliche eigene Verluste, bezahlbare Kosten … und ganz am Ende: Verbesserung der Sicherheit und Lebensbedingungen in Afghanistan. Kein Wunder daher, daß sich letztere seit dem Sturz der Taliban nicht verbessert haben: Dem Bericht der Uno-Entwicklungshilfebehörde UNDP von 2010 zufolge sind sechzig Prozent der Kleinkinder unterernährt, haben fünfzig Prozent der Menschen keinen Zugang zu klinischer Versorgung, leiden achtzig Prozent der Bevölkerung unter dem Fehlen sauberen Trinkwassers. Eine Million Afghanen sind im eigenen Land auf der Flucht. Daß von den Afghanen eine Bedrohung unserer Sicherheit ausgeht – im Sinne des in historischen Granit gemeißelten Spruchs von Minister Struck – glaubt spätestens seit 2003 kein Politiker. Keine Polizei der Welt verdächtigt auch nur einen einzigen Afghanen, an internationalen islamistischen Terroranschlägen beteiligt zu sein.

Bis wann also werden wir tatsächlich aus Afghanistan abziehen?

Erös: Vollendeter Abzug im Sinne von keine ausländischen Soldaten oder militärische Einrichtungen mehr im Land? Nicht in den nächsten Jahrzehnten! Dazu ist für die USA die geostrategische Lage des Landes zu wichtig – Pakistan, China, Iran etc.

Was sollen dann all die Versprechungen vom Abzug?

Erös: Ich halte sie für ein innenpolitisches Sedativum vor Wahlen. Vergangenes Jahr war das tödlichste für die afghanische Zivilbevölkerung seit 2002. Es wird in diesem Jahr wohl wieder „getoppt“ werden. Die „Kampfart“ der Aufständischen wird sich weiterhin wandeln. Direkte Angriffe auf unsere Soldaten in den Ausbildungseinheiten und auf Offiziere in Ministerien und Stäben – wie vor wenigen Tagen im Kabuler Inenministerium – durch afghanische Soldaten oder Polizisten werden zunehmen; damit auch die Zahl der Opfer bei Isaf.

Wann auch immer er stattfinden mag, was passiert in Afghanistan nach dem Abzug?

Erös: Ich bin mir ziemlich sicher: Es wird in den nächsten Jahrzehnten keinen vollständigen militärischen Abzug geben. Und selbst wenn: Die Taliban haben innenpolitisch gelernt, sie werden die gröbsten Fehler ihres ja sehr kurzen Regimes der Jahre 1996 bis 2001 nicht wiederholen, ihre 1994 hohe Akzeptanz bei der paschtunischen Bevölkerung ist dramatisch gesunken, eine finanzielle, militärische, politische und diplomatische Unterstützung durch Saudi-Arabien, Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate in aller Öffentlichkeit – wie von Anfang der neunziger Jahre bis zu ihrem Sturz – wird nach dem 11. September 2001 so nicht mehr möglich sein und auch nicht mehr stattfinden.

Es verwundert, daß Präsident Karzai beim Gedanken an den Abzug der westlichen Truppen so gelassen bleibt. Müßte er nicht sehr besorgt um Macht und Leben sein?

Erös: Bei einem – noch einmal: nicht zu erwartenden – vollständigen Abzug der US-Truppen – die anderen Truppensteller spielen militärisch keine Rolle –, müßten Karzai und einige tausend korrupte Afghanen, die mit den US-Truppen und Behörden zusammengearbeitet haben und sich auf Kosten ihrer eigenen Bevölkerung unvorstellbar bereichert haben, tatsächlich mit den letzten US-Hubschraubern ausgeflogen werden – wie weiland die südvietnamesischen Eliten aus Saigon. Karzai und die korrupten Eliten wissen dies und werden Vorsorge getroffen haben. Um sie müssen wir uns wahrlich keine Sorgen machen.

Welche Chance hat Ihre „Kinderhilfe“ noch, wenn der Bürgerkrieg zurückkommt?

Erös: Noch einmal: Die US-Truppen ziehen nicht ab, sie ziehen Truppenteile zurück. Es wird daher auch keinen Bürgerkrieg wie nach Abzug der Sowjet-truppen 1989 geben. Der „Low Intensity Conflict“ – Partisanenkrieg – wird sich allerdings noch Jahre hinziehen. Die Aufständischen werden sich in ihrem Vorgehen den sich jeweils änderenden Taktiken der Isaf weiterhin geschickt anpassen, wie seit 2005. Es gilt der Satz von Henry Kissinger aus den Lehren des Vietnamkrieges: „Guerilla gewinnt, solange sie nicht verliert. Konventionelle Truppe verliert, wenn sie nicht gewinnt.“ Es sieht derzeit wirklich nicht nach einer Niederlage der Aufständischen aus.

Peter Scholl-Latour sagte in einem Interview mit dieser Zeitung zu Beginn der Afghanistan-Intervention 2001 voraus: „Die Amerikaner werden diesen Feldzug nicht gewinnen.“ Hat er also recht behalten?

Erös: Wie könnte ich einem Peter Scholl-Latour widersprechen! Wir haben uns 1986 während des sowjetisch-afghanischen Krieges in Peschawar kennen- und schätzengelernt. Im übrigen: 2003 habe ich fast wortgleich formuliert und führe seither meinen eigenen „Krieg“ in Afghanistan. Unblutig, preisgünstig und bislang recht erfolgreich.

Wie lautet Ihre Bilanz des Krieges?

Erös: Politiker lernen leider viel zu wenig, manchmal gar nicht aus der Geschichte. Auch deshalb nicht, weil nicht sie die Fehler ausbaden müssen, sondern einfache, meist junge Soldaten, seit 2002 fast 2.900 Gefallene auf westlicher Seite und mehr als 80.000 bei Gefechten unmittelbar getötete, unbeteiligte Zivilisten, meist Frauen und Kinder. Wie viele Afghanen mittelbar, also durch Hunger. Krankheiten, Selbstmord etc. ums Leben kamen, hat niemand gezählt. Mein „Trost“: Die Afghanen haben in ihrer vieltausendjährigen Geschichte schon schlimmere Jahre er- und überlebt. Ich vertraue auf ihre Durchhalte- und Regenerationsfähigkeit und nicht auf Macht und „Klugheit“ westlicher Politik(er).

War dieses Ende voraussehbar? Die verantwortlichen Berliner Politiker sagen: Nein!

Erös: Siehe Äsops „Die Fabel von den beiden Fröschen“ und Jesus Sirach, Kapitel 7, Vers 40: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ Zu deutsch: „Was auch immer du tust, tu es klug und bedenke das Ende.“

 

Dr. Reinhard Erös, Bekannt ist der Afghanistan-Experte vor allem durch seine zahlreichen Medienauftritte. Der 1948 im bayerischen Tirschenreuth geborene Oberstarzt war vor seinem Bundeswehr-Abschied 2002 Kommandoarzt des Eliteverbandes Division Spezielle Operationen (DSO). Von der Truppe beurlaubt, lebte der Fernspäher und Sanitätsoffizier von 1986 bis 1990 „illegal“ in Afghanistan. In versteckten Höhlenkliniken, von sowjetischen Speznaz-Truppen gejagt, versorgte er die Zivilbevölkerung. 1998 ging er erneut an den Hindukusch und bereist das Land bis heute immer wieder. Im selben Jahr gründete er die „Kinderhilfe Afghanistan“, die dort dank Spenden dreißig Schulen, zwei Waisenhäuser, zwei Kliniken und 15 Bildungszentren gebaut hat. 2002 erschien sein Buch „Tee mit dem Teufel“, 2008: „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ (Platz 11 der Spiegel-Bestsellerliste).

www.kinderhilfe-afghanistan.de

 

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