© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Unausweichliches Beben
Strukturwandel: Das Internet wird dem traditionellen Einzelhandel schwer zusetzen / Mehr Service und direkte Kommunikation mit dem Kunden
Markus Brandstetter

Es gibt eine Menge Zukunftsvorhersagen, die viele gerne glauben, weil sie sich angenehm anhören und uns keine Veränderungen abverlangen: Krebs wird bald heilbar sein, auf dem Mars wird Leben entdeckt werden und der Euro hält genauso lange wie der Denar des Römischen Reiches – nämlich vier Jahrhunderte.

Viel weniger angenehm klingen Prognosen, die den Untergang traditioneller Wirtschaftszweige vorhersagen, weil sie uns zu Veränderungen zwingen und meist viel wahrscheinlicher sind als Theo Waigels Euro-Träume in der Welt am Sonntag. Zu diesen unbeliebten Prognosen gehört die, daß das Internet den Einzelhandel in den nächsten zehn Jahren einschneidend verändern wird.

Alle Zahlen weisen in diese Richtung: 3,4 Prozent aller Güter und Waren werden in der EU über das Internet verkauft; in den USA sind es 4,6 Prozent. Das ist nicht viel, aber es wird bald viel mehr sein. Zwischen 2004 und 2012 hat sich die Anzahl der Menschen, die etwas im Internet gekauft haben, verdoppelt.

Schon heute erledigen die Menschen zwischen zwanzig und dreißig ein Viertel ihre Einkäufe im Internet; bald wird es die Hälfte sein, in zehn Jahren werden es alle sein. Gewiß werden nie alle Produkte im Internet gekauft werden. Kleider von Dior, Kartoffeln, Toilettenreiniger und Billigklamotten werden auch in 20 Jahren noch in echten Läden verkauft, aber das ist ein schwacher Trost. Alles, was einigermaßen standardisierbar ist – und dazu gehören schon lange nicht mehr nur Bücher, Filme oder CDs –, kann und wird heute schon über das Internet verkauft. Dazu zählen teure Uhren, Schuhe, Herrensakkos, Krawatten, Ledersofas, Zimmerpflanzen, genauso wie Lebensversicherungen, Kaffee, Urlaubsreisen, Bahn- und Flugtickets und Potenzpillen – von Heimkinosystemen oder Computern gar nicht zu reden.

Bleiben werden dem traditionellen Einzelhandel nur zwei Segmente: Luxusgüter und Ramsch. Alles dazwischen läßt sich problemlos im Internet verkaufen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wollen die Menschen eigentlich so viel im Internet kaufen? Ist Einkaufen nicht auch ein Erlebnis? Durchaus, und das ist auch der Grund dafür, warum reale Einkäufe nie ganz und auch nicht über Nacht verschwinden werden, aber das wird den Trend nicht aufhalten.

Was kann der traditionelle Einzelhändler in dieser Situation überhaupt noch tun? Zwei Dinge bleiben ihm: Er kann und muß auf den Internetzug aufspringen, indem er seine realen Angebote durch einen Internet-Laden ergänzt; das ist nicht mehr teuer und technisch gut machbar. Und der Einzelhandel muß den Service und die Kommunikation bieten, die Internethändler nie bieten können. Geschäftsleute dürfen nicht mehr passiv Waren ausstellen, gelangweilt auf Kunden warten und dann Allerweltsservice („Beratung, Montage, Reparatur“) anbieten. Statt dessen müssen sie ihre Kunden analysieren, ihr Angebot nach dem Kundennutzen ausrichten und dem Kunden das bieten, was der wirklich braucht.

Der moderne und erfolgreiche Einzelhändler, das ist der Optiker, der mit einem Koffer voller Brillen ins Seniorenheim kommt – auch mehrmals; das ist die Schuhhändlerin, die der Kundin fünf Paar Schuhe nach Hause mitgibt und sie wieder abholt; das ist die Autowerkstatt, die den Wagen zur Inspektion zu Hause abholt und dem Kunden am Abend repariert und geputzt in seine Garage stellt. Der traditionelle Einzelhandel ist daher noch lange nicht am Ende, aber das Internet wird ihn entscheidend verändern.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen