© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Pankraz,
Ph. von Zesen und die Leidenschaften

Ein Kleid für allzu viele Fälle. Das ist der Eindruck, der sich einem aufdrängt, wenn man die neueste Ausstellung durchschreitet, welche das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden letztes Wochenende eröffnet hat. Frühere „Gefühls-Schauen“ dort widmeten sich der Verbildlichung konkreter emotionshaltiger Phänomene, die zwischen Gesundheit und Krankheit oszillieren, dem Sex etwa, dem Spielen, dem Schön-sein-Wollen, dem Sich-glücklich-Fühlen. Diesmal nun geht es ums Ganze, nämlich um „die Leidenschaften“. Doch wie setzt man die ins Bild?

Man sieht Apparaturen aus den Anfängen der Gefühlsforschung, einen Beichtstuhl, die Tatwaffe eines Affektmörders, ein Video mit einem der berüchtigten Wutausbrüche des Schauspielers Klaus Kinski, Plakate von der friedlichen deutschen Revolution 1989 („Dokumente kollektiven Zorns“), dazu edle Kunstwerke von Dürer bis Gerhard Richter, welche „leidenschaftliche Zustände“ darstellen. Nur die Leidenschaft selbst – die sieht man nicht.

Daran ändert auch die gewaltig aufgedonnerte Inszenierung der Schau nichts. „Die Leidenschaften – Ein Drama in fünf Akten“ lautet ihr Titel; eine veritable Opernregisseurin (Mariame Clément) und eine vielerfahrene Bühnenbildnerin (Julia Hansen) wurden extra für den Aufbau engagiert. Im Katalog wird einem versichert, daß man hier den vitalsten, den unberechenbarsten, auf jeden Fall den „spannendsten“ aller menschlichen Gefühle ins Auge blickt, der Liebe, dem Haß, dem Zorn, der Angst, sogar dem Ekel.

Aber der Besucher bleibt „cool“, fühlt sich weder belehrt noch echt spannend unterhalten; jedenfalls Pankraz ging es so. Was wollen die eigentlich? fragte er sich. Ist die Leidenschaft nun eine Sache, vor der man sich hüten muß, oder ist sie eine, die man anstreben soll, um gesund zu bleiben? Darüber würde man hier gern Genaueres erfahren, schließlich ist man in einem Hygiene-Museum.

Von Haus aus galt ja die Leidenschaft bei allen Völkern als Verhängnis, war identisch mit dem (Er-)Leiden an sich. Die passio der Lateiner, die auch heute noch bei den meisten Westeuropäern (in jeweils nur schwach modulierter Form) das Wort für das ist, was wir hierzulande „Leidenschaft“ nennen, bedeutete ursprünglich nichts weiter als concitatio animi, also Geistesverwirrung, Verrücktheit, völliges Weggetretensein. Sie war die gräßlichste aller Krankheiten, bitterer als alle körperlichen Schmerzen, Tor des Todes.

Erst mit dem Sieg des Christentums wuchs der passio allmählich eine tragisch-positive Bedeutung zu. Denn das Leiden Christi am Kreuz war totales Leiden, das alle Schmerzen und Verwirrtheiten einschloß. Und die Passion Christi war nicht nur Vorspiel und Eintrittstor des Todes, sondern letztlich Erlösung, Erhellung ohnegleichen, höchste Erfüllung. Von da also leitete sich die Vermutung ab, daß jede auf die Spitze getriebene Emotion, selbst wenn sie sich in wüsten Exhibitionen austobt, nicht nur Böses gebiert, sondern – möglicherweise – auch Erfüllung.

Skepsis blieb dennoch über alle Zeiten hinweg lebendig, besonders gegenüber der ins Bild tretenden Leidenschaft, wie man sie jetzt im Hygiene-Museum besichtigen kann. Alle Moralisten waren sich einig: Leidenschaften nach außen hin zu zeigen, gehörte sich für einen Gentleman einfach nicht, war unfein und sabotierte die soziale Kommunikation. René Descartes dekretierte geradezu, daß es die zentrale Aufgabe der Vernunft sei, die Gefühle von vornherein zu disziplinieren, sie davor zu bewahren, jedes Maß zu durchbrechen und sich „naturhaft rein“ darzustellen.

Das gefühlsselige 18. Jahrhundert lockerte die Zügel später zwar, füllte den Buchmarkt mit „sentimentalen“ Romanen und die Bühnen mit von Leidenschaft durchwehten „bürgerlichen Trauerspielen“, es beharrte aber darauf, daß „nackte“, gar öffentlich ausgestellte Leidenschaft stets ein zumindest zweischneidiges Schwert sei. Eine gute Sache aus ganzer Seele mit Leidenschaft zu betreiben schloß weiterhin ein, sie nicht aufdringlich öffentlich auszustellen. Gute Leidenschaft ist immer „gefesselte“ Leidenschaft, nimmt Rücksicht auf die anderen wie auf die betriebene Sache selbst.

Im Hygiene-Museum wird die „Fesselung“ etwas allzu optimistisch historisiert und regelrecht in ein bestimmtes Schema gepreßt. Die fünf Räume („Drama-Akte“), die man durchwandert, sind jeweils in drei „Wohnungen“ unterteilt: In der ersten sieht es ziemlich aufgeräumt aus, doch es ist, so wird einem suggeriert, eine scheinbare Aufgeräumtheit. In der zweiten bricht dann das „Chaos“ aus, die eigentliche Leidenschaft, bis schließlich in der dritten das Mobiliar wieder ordentlich (und diesmal definitiv) zurechtgerückt wird. Man darf aufatmen. O ihr fortschrittsgläubigen Opernregisseurinnen und Bühnenbildnerinnen!

Nicht die kleinste Sichtnische gibt es bei ihnen übrigens, wenn Pankraz richtig aufgepaßt hat, für Philipp von Zesen (1619–1689), den großen Barockschriftsteller aus Dessau, der seinerzeit am fürstlichen Hof in Köthen Mitglied der epochemachenden „Fruchtbringenden Gesellschaft“ zur Förderung der deutschen Sprache war und der doch das schöne Wort „Leidenschaft“ eines Tages in aller Form erfunden hat!

Unzählige lateinische Wörter hat der wackere von Zesen damals durch deutsche Bildungen ersetzt, von denen sich die meisten auch bis heute erhalten haben, etwa Ableitung (für Derivation), Emporkömmling (für Parvenü), Glaubensbekenntnis (für Credo), Kreislauf (für Zirkulation), Nachruf (für Nekrolog), Sterblichkeit (für Mortalität), Vollmacht (für Plenipotenz).

Andere seiner Schöpfungen waren weniger erfolgreich, provozierten Hohn und Spott, so die Blitzfeuererregung (für Elektrizität) oder die Dörrleiche (für Mumie). Einige lösten im ganzen Reich Empörung aus, vor allem der Jungfernzwinger (für Kloster). Aber die Leidenschaft war von Anfang an ein Volltreffer, begeisterte alle Sprechenden. Sie würde durchaus auch ein Erinnerungsplätzchen im Hygiene-Museum verdienen.

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