© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Die letzte Renaissance der Zeitzeugen
Das erwachte Interesse an den Nachkriegsgreueln in der Tschechoslowakei beschert Erika Härtl Coccolinis biographischem Werk neue Aufmerksamkeit
Eckhard Scheld

Ihr Buch ist in Italien bereits in zwei Auflagen erschienen, in Deutschland hat Erika Härtl Coccolini eine erste Auflage ihrer Biographie vor ein paar Jahren unter dem Titel „Prag Caslavska 15“ vorgelegt. Doch erst nach der jüngst entdeckten Lust zur Aufarbeitung der blutigen Nachkriegsvergangenheit in Tschechien, die auch dem Buch von Härtl Coccolini größere mediale Aufmerksamkeit bescherte, will das ZDF jetzt die Autorin für ein Interview für das „Zeitzeugen-Projekt“ von Stern und ZDF gewinnen. Es wird nämlich nicht mehr viele Zeitzeugen geben, die sich an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Prag erinnern.

Erika Härtl Coccolini, 1937 in Prag geboren, erlebte dort, wie der Haß das jahrhundertelange Zusammenleben der Deutschen, Tschechen und Juden in dem im Frühjahr 1939 von Hitlers Truppen besetzten Prag vergiftete. In Erläuterungen zur Geschichte und Kultur Böhmens gibt sie Antworten darauf, wie der Haß entstand, von Generation zu Generation weitergegebene Spannungen schließlich 1945 in der Katastrophe enden.

Sie erzählt von ihren traumatischen Erinnerungen an den Prager Aufstand vom 5. bis 8. Mai 1945 und den folgenden Gewalttaten gegen die deutsche Bevölkerung. Bei dem Aufstand wird sie von der Mutter getrennt und kommt als Kind in das berüchtigte Lager Hagibor. Im August 1945 wird sie dort von einem tschechischen Lageraufseher gerettet, während die deutschen Internierten in Gewaltmärschen und Eisenbahntransporten deportiert werden. Es ist anzunehmen, daß ihr Retter während der Beschlagnahme des Lagers durch den russischen NKWD Přemysl Pitter war. Im Winter 1945 fand das Kind Obhut bei Verwandten.

Ihre Mutter konnte sie erst im März 1946 durch die Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes wiedersehen. Im April 1946 wurden Erika und ihre durch Zwangsarbeit völlig erschöpfte Mutter schließlich ohne Dokumente und Gepäck nach Hessen vertrieben. Anschaulich berichtete sie über das Hungerjahr 1946, als man mit dem Sammeln von Bucheckern zur Ölgewinnung versuchte, den Hunger zu lindern. Anfang Mai 1947 bestand sie die Aufnahmeprüfung für das Realgymnasium in Dillenburg, wo dann auch die Schulspeisung begann.Das Buch der Autorin gibt Einblicke in diese karge Zeit. Nach dem Abitur konnte sie mit einem Stipendium an der Pädagogischen Hochschule in Koblenz studieren, heiratete 1961 und zog nach Italien,wo sie als Deutschlehrerin, Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitete. Doch die traumatischen Erinnerungen an ihre Zeit in Prag wollten nicht weichen. Sie wurde von Alpträumen und Angstzuständen geplagt.

Erst im Mai 1980 reiste sie mit einer italienischen Reisegruppe wieder nach Prag, wagte die Begegnung mit der Straße ihrer Kindheit und suchte auch nach den Überresten des Lagers Hagibor, das sie auf einem Gelände mit hohem Unkraut und Büschen wiederfand. Bedauernd mußte sie erkennen, daß es kein Ort der Erinnerung ist. Im August 2001 kehrt sie noch einmal nach Prag zurück und nimmt die Veränderungen in dieser Stadt wahr: „So wie die Stadt mit dem Grau der Fassaden die schrecklichen Jahre des Terrors ausgelöscht hat und lebt, als hätte sie nur auf diese Wiederauferstehung gewartet, so möchte ich auch die Schrecken der Vergangenheit auslöschen. Ein ganzes Leben habe ich die Heimat gesucht und immer die beneidet, die an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren und ihn lieben durften, so häßlich und unbedeutend er auch immer wahr. Mir war das immer versagt. Wir waren Ausgestoßene, denen das Heimatrecht aberkannt worden war, schuldlos Schuldige. Jetzt schließen die Eindrücke dieser Reise mit den Bildern aus der Kindheit einen Kreis. Ich fühle, daß es möglich ist. Diesmal ist es geschehen. Die Vergangenheit ist verblaßt. Ich fürchte nicht mehr die Begegnung mit Prag. Ich möchte wiederkommen.“

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