© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Wider die menschliche Natur
Aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung zur Korrelation von urbaner Herkunft und Depression
Rüdiger Volkmann

Der eskalierende Gegensatz von Stadt und Land durchzieht die deutsche Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Wirtschaftswunders, von der Bismarckschen Schutzzollpolitik zugunsten großagrarischer Ostelbier, über den Landvolk-Aufruhr in Weimar bis zu den Autarkieträumen der mit „Blut und Boden“ assoziierten NS-Ära. Erst als die Bauern der Bonner Republik nach dem Diktat des Brüsseler „Grünen Plans“ zu wirtschaften begannen und das große Höfesterben einsetzte, kam die schmerzensreiche Transformation der Agrar- in die moderne Industriegesellschaft zu ihrem unumkehrbaren Abschluß.

Einen ähnlichen Prozeß durchlaufen gerade die Volkswirtschaften in Indien, China und Brasilien. Mit der prognostizierten Folge einer historisch singulären Urbanisierung, die bis 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung verstädtern und Chinas Metropolen im Jahrestakt um zehn Millionen Einwohner wachsen lassen wird. Auf diesen titanischen Wandel scheint die menschliche Natur indes extrem schlecht vorbereitet. Denn Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei. Im Gegenteil: Immer mehr Städter fühlen sich bedrückt. Das äußerst sich im Anstieg psychischer Erkrankungen. Großstädter leiden in Deutschland etwa 40 Prozent häufiger an Depressionen als Bundesbürger, die ihr Auskommen in Kleinstädten und Dörfern finden.

Die Quote der Angststörungen ist im Getriebe urbaner Zentren um 20 Prozent höher als dort, wo das Käuzchen ruft und sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Kein Wunder, wenn „Landlust“ Hochkonjunktur hat und die Immobilienbranche von den Sehnsüchten gestreßter Großstädter nach beschaulicher Existenz in ländlichen Entschleunigungszonen profitiert. Aber nicht nur Makler sind die Nutznießer solcher sozialpsychologischen Verwerfungen. Auch Hirnforschern eröffnen sich hier neue Arbeitsfelder.

So ist die Mannschaft um den Mathematiker und Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, seit einigen Jahren damit beschäftigt, den Zusammenhang zwischen Hirnfunktion, psychischen Störungen und urbanen Lebensbedingungen zu erkunden. Meyer-Lindenberg geht mit seinen Forschungen keinen deutschen Sonderweg, sondern spürt einem internationalen Phänomen nach, wie er unter Verweis auf Untersuchungen über das Schizophrenie-Risiko von Immigranten in Schweden, japanische Messungen von Strukturveränderungen im limbischen System schizophrener Großstädter oder das im Vergleich zur Provinz erhöhte Gewaltpotential in US-Metropolen ausführt (Gehirn&Geist, 1-2/12).

Bekannt ist, daß Depressionen und Angststörungen wesentlich aus der Überaktivität der Amygdala resultieren. Diese erbsengroße, beidseits tief im Schläfenlappen liegende Hirnstruktur löst zwischen Furcht und Aggression changierende Reaktionen des Organismus aus. Sie antworten somit auf die täglichen Belastungen des Städters, auf Lärm am Arbeitsplatz, in Verkehrsmitteln, Kaufhäusern oder in den meist gemieteten vier Wänden, zudem auf die allgegenwärtige Atmosphäre von Hektik und Unrast, auf die soziale Anonymität. Dies alles verdichtet sich in täglicher Wahrnehmung zu einem bedrohlichen Konglomerat von Streßfaktoren.

Mit neurobiologischen Methoden, so Meyer-Lindenberg, habe man die Korrelation zwischen geographischer Herkunft (Dorf, Kleinstadt, Großstadt) und Depressionen auslösenden Amygdala-Aktivitäten zweifelsfrei nachweisen können. Die Aktivität dieser mittels Kernspintomographie leicht erfaßbaren Hirnregion sei bei den künstlich unter Streß gesetzten Probanden „mit der Größe der Statdumgebung stufenweise gestiegen“, während dieses Gefühlszentrum bei den Dörflern gänzlich und bei Kleinstädtern nur leicht beeindruckbar gewesen sei. Mit einer „so starken Korrelation“, so gesteht der verblüffte Forscher ein, „hatten wir nicht gerechnet“.

Auch eine modifizierte Wiederholung des Streßtests falsifizierte den Zusammenhang zwischen Statdtleben und agiler Amygdala nicht. Ähnliche Resultate ergaben sich für die Beziehungen zwischen urbaner Herkunft und den in einer anderen Hirnregion, dem perigenualen anterioren Zingulum (pACC) gemessenen Tomographiedaten. Je länger die Probanden als Kind in der Stadt gelebt hatten, um so stärker regte sich das pACC-Areal unter sozialem Streß. Trotz der scheinbar klaren Aussage „Stadtleben erhöht das Risiko psychischer Erkrankungen“ verbergen sich in dem Forschungsbericht einige Zweideutigkeiten. So konzentriert er sich fast ausschließlich auf die depressive Richtung der Hirnaktivität, die sich jedoch auch in Gewalt und Aggression als Antwort auf sozialen Streß entladen kann.

Verwirrung stiftet überdies die Aussage, die Aktivitäten von Amygdala und pACC steigerten das Erkrankungsrisiko, doch nicht sie, sondern, was weitere Experimente erhärten müßten, die „sozialen Streßfaktoren in der Stadt“ seien die „eigentliche Ursache“ dafür. Was Meyer-Lindenberg damit als Hypothese formuliert, hat er zuvor durch den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen urbaner Herkunft und Hirnaktivität zweifelsfrei bewiesen.

Abgesehen von solchen Inkonsequenzen bemüht sich der Mannheimer Wissenschaftler in seinem Ausblick auf die „weitreichenden“ sozial- und gesundheitspolitischen Folgen seiner Forschungen um kühle Rationalität: Eine Rückkehr aufs Land im Interesse der Eindämmung schwerer psychischer Schäden der Urbanisierung sei vielleicht wünschenswert, aber dies lasse die demographische Entwicklung selbst innerhalb Europas nicht mehr zu. Darum, so sein poesiealbumträchtiges Fazit, müßten Städteplaner zwischen Glas, Beton und Asphalt „gesündere Lebenswelten“ schaffen.

 

Gute Luftqualität in Deutschland

Laut einer aktuellen Auswertung des Umweltbundesamtes (UBA) hat die Luft in großen Teilen Deutschlands eine gute Qualität. Vor allem in direkter Nähe zu Straßen in Städten und Ballungsräumen war die Luft allerdings auch 2011 zu stark mit Feinstaub und Stickstoffdioxid (NO2) belastet. „Mit Einführung der modernsten Abgas-Norm (Euro 6) und der stetigen Durchdringung der Flotte mit solchen Fahrzeugen wird die Situation in Zukunft verbessert“, hofft UBA-Präsident Jochen Flasbarth. Zur Luftreinhaltung müßten aber alle Sektoren einen Beitrag leisten: „Wir müssen ein Auge auf die Folgen der immer weiter dezentralisierten Energieerzeugung haben: Kleine Anlagen in Innenstädten dürfen nicht zu einer höheren Staubbelastung führen als die heutigen Großkraftwerke. Hier hat Deutschland mit der Verschärfung der Regelung für Kleinfeuerungsanlagen einen wichtigen Schritt gemacht“, so Flasbarth.

Hintergrundpapier „Luftqualität 2011“ des Umweltbundesamtes:

www.umweltdaten.de

Foto: Streß und Hektik in der Großstadt: Gesündere Lebenswelten zwischen Glas, Beton und Asphalt schaffen

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