© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Auf Leben oder Tod
Neuregelung für Organspenden: Der Bundestag setzt die Krankenkassen und deren Kunden unter Druck
Robert Backhaus

Siebzig Prozent aller Deutschen sind laut Umfragen bereit, nach ihrem Tod Organe oder Gewebe zu spenden. Aber nur etwas mehr als zehn Prozent haben ihre Bereitschaft bisher per Spenderausweis oder durch andere justitielle Verfügungen auch wirklich bekräftigt und dokumentiert. Zwischen guter Absicht und guter Tat klafft eben doch ein gewaltiger Unterschied.

Der Bundestag in Berlin hat jetzt beschlossen, die Differenz entschieden zu verkleinern. Ab Sommer dieses Jahres sollen alle gesetzlichen und privaten Krankenkassen dazu verpflichtet werden, ihre Kunden schriftlich nach ihrer Spenderbereitschaft zu befragen und ihnen Spenderausweise zuzuschicken, und zwar wiederholt. Man kann dann seine Bereitschaft erklären (Ja), sie verneinen (Nein) oder das Anschreiben einfach auch wegwerfen, Zwang soll es also nicht geben. Aber der behördliche Druck auf die Bürger in Sachen Organspende wird drastisch erhöht.

Viele Datenschützer und auch die Deutsche Hospiz Stiftung übten scharfe Kritik an der bevorstehenden Maßnahme, sprachen von Erzschnüffelei und Superbürokratie. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery dagegen begrüßte die Regelung ausdrücklich, anderen ging sie nicht weit genug, so zum Beispiel dem Ethiker und Moralphilosophen Dieter Birnbacher, der schon seit langem ein Gesetz fordert, wonach jedem Hirntoten (auch gegen seinen erklärten testamentarischen Willen) Organe entnommen werden dürfen, falls diese noch medizinisch verwertbar seien.

Organspenden, heißt es bei den meisten Ethikern, die sich zu Wort melden, sei Menschen- und Bürgerpflicht, und sie verweisen auf das bittere Los all jener Patienten (etwa 12.000 zur Zeit in Deutschland), denen nur noch durch ein Organimplantat zu helfen wäre und die wegen des horrenden Mangels an zur Verfügung stehenden Fremdorganen in grausamster Weise zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her gerissen werden. Angesichts dieses Elends plädiert Birnbacher sogar für die Schaffung eines (staatlich scharf kontrollierten) Organhandels; so etwas sei heutzutage im Zeichen der Globalisierung und der schnellen Transportwege an sich die pure Selbstverständlichkeit.

Gibt es überhaupt noch irgendwelche respektablen und einsehbaren Gründe, sich einer Organspende zu verweigern? Oder resultiert die grassierende Bedenklichkeit tatsächlich nur aus bloßer Unaufgeklärtheit und tief eingewurzelten magischen Ur-Ängsten? Das zu entscheiden, fällt trotz aller Schreckensbilder aus den Wartezimmern der potentiellen Organempfänger keineswegs leicht, vor allem wenn man sich auszumalen versucht, was ein voll durchgesetzter Zwang zur Organspende und die Eröffnung einer richtiggehenden Organspender-Industrie für Langzeitfolgen haben könnten.

Soll etwa künftig an jeder Unfallstelle, bei jeder Hinrichtungszeremonie, faktisch an jedem Sterbebett ein Ausweide-Gutachter stehen oder eintreffen, der den jeweiligen Organwert des Spenders feststellt und für umgehende Verwertung sorgt? Sollen wir uns wirklich alle daran gewöhnen, als lebende Organbank herumzulaufen und ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir noch keine Niere, kein Auge oder keinen Gehirnlappen an unseren Nächsten abgegeben haben? Sollen denn unversehrte, schöne Körper rein gar nichts mehr bedeuten?

Mag sein, der „eigentliche“ Mensch, seine Würde und Integrität liegen in der Seele, in der psychischen Identität und Kontinuität. Aber das ändert nichts daran, daß, wenn schon nicht unser Verstand, so doch unser Gefühl, unsere Empfindungen eine ganze Menge mit unserer Körperlichkeit zu tun haben, daß wir uns in ihr intensiv zu Hause fühlen und sie durchaus als einen Teil unseres Selbst verstehen.

Zahlreiche hoch gepriesene Heil- und Kultübungen, vom indischen Yoga bis zur griechisch-antiken Gymnastik, zielten (und zielen weiterhin) auf die Herstellung der Einheit von Körper und Geist ab. Für sie ist der Körper kein zufälliges Agglomerat, sondern sehr wohl geistinspiriert, während er seinerseits den Geist nicht unwesentlich moduliert, viele seiner Denkwege bestimmt. Das Zögern, seinen Körper nach dem Tode zur Weiterverwertung und Wiederverwendung freizugeben, entspringt nicht zuletzt einer ausgesprochen psychosomatischen Fürsorglichkeit. „Was als Ganzes stirbt, das soll nicht in Einzelteilen weiterleben“ – das meinte sogar der strikte Materialist Jean-Paul Sartre.

Für die Patienten, die auf der Organ-Warteliste stehen, ist die Knappheit an Spenderorganen ein tragisches Verhängnis, und keinem von ihnen sind gesamtgesellschaftliche Ästhetik-Perspektiven zuzumuten. Dennoch stimmt es: Die Aussicht auf „Organ-Fülle“ statt der gegenwärtigen Knappheit, auf einen florierenden „Organmarkt“, auf riesige Tiefkühlmagazine, in denen Tausende von menschlichen Körperteilen, geistbefreit, auf Einsatz warten, enthält etwas zutiefst Verstörendes, das in die Defensive treibt.

Zudem wirkt der Glaube an die Vermeidung von Mißbräuchen reichlich blauäugig. Schon heute kursieren Berichte aus Brasilien oder Indien über von der Dorfgemeinschaft gebilligte Morde an „überflüssigen“, sprich: unerwünschten, Kindern, deren Organe man eifrig an westliche Einkäufer verscherbelt. Oder man erinnere sich jener (nicht ganz gesicherten) Horrornachrichten aus China, wonach angeblich das „Hinrichtungssoll“ der Strafanstalten immer dann von den Behörden heraufgesetzt wird, wenn ein wachsender Bedarf an Fremdorganen zu registrieren ist.

Kommt die Chose erst einmal weltweit richtig in Schwung, so ist zu befürchten, daß sehr schnell sämtliche ethischen Schranken fallen. Analysten und Konzerne werden sich des Geschäfts annehmen, um es zu optimieren und für Investoren attraktiv zu machen. Neue Arbeitsplätze werden entstehen, neue, interessante Berufsrollen, und die Abzocker können sich womöglich sogar noch als Retter der Verzweifelten aufspielen.

Da ist es wohl besser, man verharrt freiwillig in knappen Zeiten. Die haben immerhin den Vorteil, daß Entscheidungen über Leben oder Tod nicht zur flachen Routine werden, von den Beteiligten vollen existentiellen Einsatz fordern, echtes Mitleid, leidenschaftliche Hilfsbereitschaft.

Foto: Organentnahme, Spenderausweis (oben): Gespendet werden können unter anderem Nieren, Herz, Leber, Lunge, Pankreas und Dünndarm

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