© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Im Dienste der Westbindung
Sendungsbewußt: Der Historiker und Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher wird neunzig
Karlheinz Weissmann

Am 13. März wird der Politologe Karl Dietrich Bracher seinen 90. Geburtstag feiern. Wer ein so biblisches Alter erreicht, erfährt auch, daß der eigene Name zu Lebzeiten verblaßt. Jedenfalls sind die Umstände schon historisch, die Bracher einmal zu den einflußreichsten Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern der Bundesrepublik gemacht haben, historisch wie die Welt, aus der er ursprünglich stammte.

Bracher wurde 1922 als Sohn einer protestantischen schwäbischen Familie geboren, die sich der liberalen Tradition des deutschen Südwestens verpflichtet fühlte. Das erklärte schon, warum Bracher dem NS-Regime fremd gegenüberstand. Seinen Plan, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen, konnte er nicht verwirklichen. Nach dem Arbeitsdienst wurde er sofort zur Wehrmacht eingezogen, denn der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.

Allerdings geriet Bracher bereits 1943 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Eine Erfahrung, die seine ganze weitere Entwicklung prägen sollte. Denn er gehörte zu jenen intelligenten jungen Männern, die man in Washington als Träger der reorientation des deutschen Volkes betrachtete, des langfristigen Prozesses der Neuausrichtung nach dem kurzfristigen der reeducation, der Umerziehung, unter alliierter Kontrolle.

Dafür, daß Bracher sich für dieses Projekt gewinnen ließ, spielte die innere Distanz zum Nationalsozialismus eine Rolle, aber ausschlaggebend war die ehrliche Bewunderung des großen Siegers. Rückblickend meinte er: „Es war uns (…) daran gelegen, die neuen Eindrücke, die wir aus Amerika mitbrachten, in der alten Umwelt, die wir nun als anachronistisch empfanden, umzusetzen: nicht nur weil der Krieg so eindeutig und mit so schrecklichen Folgen verloren war, sondern weil viele Deutsche überhaupt noch nicht wahrnehmen wollten, worum es eigentlich ging. Wir waren insofern schon aufgeklärter, hatten jedenfalls den Eindruck.“

Angesichts dieses Sendungsbewußtseins war es nur konsequent, daß Bracher, nachdem er ursprünglich ein Studium der Geschichte und Philosophie aufgenommen hatte und in Alter Geschichte promoviert worden war, zur Politikwissenschaft/Politologie wechselte. Das Fach diente nicht einfach als Ersatz für die ältere deutsche Staatslehre, sondern ausdrücklich als „Demokratiewissenschaft“ mit dem Ziel, dem akademischen Nachwuchs ein „westliches“ Politikverständnis einzuflößen.

Daß Brachers Habilitationsschrift „Die Auflösung der Weimarer Republik“ dem dienen konnte, ist nicht auf den ersten Blick zu sehen, aber auf den zweiten, wenn man die Kernthese der Arbeit genauer betrachtet. Denn derzufolge war Weimar nicht an den objektiven Umständen – der Demütigung Deutschlands durch den Versailler Vertrag, der Politik der Sieger, der Weltwirtschaftskrise, der Bedrohung durch den Kommunismus – gescheitert, sondern an Folgelasten des Wilhelminismus, Konstruktionsfehlern der Verfassung, die mit einem antiliberalen Affekt zu tun hatten, der Republikfeindlichkeit der Eliten und einer anachronistischen Vorstellung von nationaler Souveränität. In dieser Perspektive erschien nicht nur der Untergang der Demokratie selbstverschuldet, sondern auch der folgende Untergang Deutschlands, das nicht bereit gewesen war, dem vorgeschriebenen – heißt: amerikanischen – Weg zu folgen.

Mit dieser Auffassung stand Bracher zwar 1955 – bei Erscheinen des Buches – verhältnismäßig allein unter den Historikern, aber in den Reihen der Politikwissenschaftler hieß man ihn begeistert willkommen. Bereits 1959 erhielt er einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Neben Kurt Sontheimer gehörte Bracher dann zu den Jungstars der Disziplin und zu den tonangebenden Intellektuellen der Bundesrepublik. In den sechziger Jahren galt er als prominenter Fürsprecher des linken Liberalismus. Unermüdlich warnte er vor der Gefahr von rechts, sprach sich für den Machtwechsel und gegen die Union, für die Hochschulreform und gegen die Notstandsgesetze, für die „Entspannung“ gegenüber dem Ostblock und gegen ein Insistieren auf Rechtspositionen aus.

Erst die Radikalisierung der Studenten ließ ihm (wiederum ähnlich Sontheimer) einen heilsamen Schock in die Glieder fahren. Bracher kritisierte die Neue Linke scharf, beharrte nicht nur auf dem Antitotalitarismus als Ausgangspunk jeder Analyse der modernen Freiheitsgefährdungen, er wies auch auf die strukturelle Ähnlichkeit der Jugendrevolte mit dem historischen Faschismus hin. Jetzt glaubte er die Ordnung des Grundgesetzes vor allem von links bedroht, machte auch keinen Hehl daraus, daß ein Zusammenhang zwischen „’68“ und dem Terror bestand.

Seither galt Bracher dem Feuilleton als „konservativ“. Aber es handelte sich doch nur um eine sehr moderate Korrektur früherer Positionen. Der Eindruck täuschte angesichts der Linksverschiebung des politischen Spektrums. Außerdem war die ihm so wichtige westernization mittlerweile vorangeschritten und durfte als unumkehrbar gelten. Die dezidiert konservativen Kräfte im Bürgertum und der Nationalismus der Nachkriegszeit hatten jede Bedeutung verloren. Betrachtete man Bracher ursprünglich als Parteigänger der Sozialdemokratie, konnte er Anfang der achtziger Jahre ohne Probleme zugunsten der neuen bürgerlichen Koalition Stellung nehmen. In Kohl und Genscher sah er Garanten der Westbindung, während ihn die Identitäts- und Neutralitätsdebatte der Linken im Kontext der Nachrüstungsdebatte stark irritierte.

In mancher Hinsicht schien es damals fast, als ob die „Bonner“ oder „Bracher-Schule“ den think tank des neuen Kanzlers stellte: bei ihm promoviert war nicht nur der Leiter der CDU-Planungsabteilung Wulf Schönbohm, sondern auch der Büroleiter Kohls, Stephan Eisel, und weiter die Redenschreiber des Bundespräsidenten Weizsäcker, Friedbert Pflüger und Ludger Kühnhardt, unter seinen Habilitanten fand sich Wolfgang Bergsdorf, der Leiter der Abteilung Inland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Diese Männer hatten zwar keine akademischen Karrierepläne im eigentlichen Sinn, hielten Brachers Grundpositionen aber für brauchbare Elemente ihres Überbaus, zumal sie Vorkämpfer der „Modernisierung“ von CDU und CSU waren, die jedenfalls kein Verständnis mehr für die alten Vorbehalte gegenüber Amerika oder die abendländisch-katholischen Präferenzen zugunsten Frankreichs hatten. Sie waren auch einverstanden mit Brachers These vom Beginn des „postnationalen“ Zeitalters und der Notwendigkeit, die Bundesrepublik in Europa aufgehen zu lassen. Noch in den Stellungnahmen der Unionsspitze angesichts der Wiedervereinigung waren entsprechende Argumentationsfiguren zu erkennen.

Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, daß sich Bracher darauf beschränkt hätte, eine Führungsreserve für die CDU zu rekrutieren, oder daß das auch nur sein vornehmstes Ziel war. Sein Ehrgeiz und sein Einfluß reichten deutlich darüber hinaus, im universitären wie außeruniversitären Bereich. Trotzdem fällt auf, daß keiner seiner bekannteren Schüler mit wissenschaftlich Bedeutsamem hervorgetreten ist und daß unter den vielen, die er als Doktorvater betreute – die Rede ist von mehr als 120 Dissertationen –, auch die umtriebige Margarita Mathiopoulos auftaucht, gegen die die Bonner Universität kürzlich ein Verfahren wegen Plagiats eingeleitet hat.

Foto: Karl Dietrich Bracher in seinem Haus in Bonn (1982): Neue Eindrücke aus Amerika

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