© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Setze Kindergarten statt Autobahn
Vor seiner Nominierung zum Bundespräsidenten: Bei der Stiftung Aufarbeitung präsentierte Joachim Gauck im Februar sein Geschichtsbild
Christian Dorn

Vor seiner Wahl, sagte Joachim Gauck dieser Tage, werde er zu aktuellen politischen Themen nicht mehr öffentlich Stellung nehmen. Danach, so wünscht es laut einer aktuellen Emnid-Umfrage jeder Fünfte, solle sich Bundespräsident Gauck zuerst zum Kapitalismus äußern. Solches aber dürfte schon am Begriff scheitern.

Dies zeigte sich wenige Tage vor der unerwarteten Nominierung, als der deutsche Freiheitsprediger zusammen mit dem ungarischen Schriftsteller György Dalos zum Abschluß der Veranstaltungsreihe „Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa. Neue Forschungen zu Tätern, Opfern, Folgen“ in der Stiftung Aufarbeitung über den „Alltag in Diktaturen“ diskutierte. Laut Gauck ist die Verwendung des Begriffs „Kapitalismus“ ein „semantischer Trick“ der Linken. Allerdings hätten die Menschen ein generelles Glaubensbedürfnis, wenn nicht an die Kirche, dann an die Ideologie. Hier verweist Gauck auch auf all die jungen Menschen, die 1945 im hehren Glauben in den Endkampf gezogen sind. Anders als Dalos, der zunächst im Sozialismus sein Heil gesehen hatte, habe er „die Zeit einer schönen, naiven Gläubigkeit nicht mitgekriegt“. Aufgrund seines von den Sowjets inhaftierten Vaters sei der Antikommunismus von Anfang an Programm gewesen.

Seine heutige Tätigkeit als politischer Pädagoge habe aber mit der Zeit einen Wandel erfahren. Die einstige Annahme, daß es eigentlich „nicht schwer zu begreifen ist, daß die Demokratie besser ist als die Diktatur“, habe sich als Trugschluß erwiesen. Inzwischen sei klar, daß die Menschen aus der ehemaligen DDR gerade über „banale Alltagsszenen“ sich an die Mechanismen der Diktatur erinnerten. Diese gingen näher als die exklusiven Opfergeschichten von Mauer, Stacheldraht und Gefängnis: „Nicht jeder Mensch ist im Gefängnis, aber jeder ist in der Schule gewesen.“

Die Abwehrreaktionen heute, wonach nicht alles schlecht gewesen sei, wären dabei die gleichen wie früher mit Blick auf den Nationalsozialismus: „Du mußt nur Autobahn durch Kindergarten ersetzen.“ Überdies, so Gauck, hätten viele, die die SED nicht mochten, gleichwohl einer quasi-religiösen Sozialismus-Vorstellung angehangen. Untermauert werde dieser Befund durch das Nachtrauern der deutschen Linken, deren verlorenes Sozialismus-Paradies sich als Illusion entpuppt hatte. In diesem Zusammenhang sei auch die heutige Differenz in der Berichterstattung über Links- und Rechtsextremismus zu kritisieren, durch die ersterer verharmlost werde. So beklagte Gauck das zwanghafte „Faschismus-Narrativ“. Zu dessen Verdeutlichung wurde aus dem Publikum auf das Beispiel Jorge Sempruns verwiesen, der unter den Nationalsozialisten immerhin gewußt habe, warum er im KZ war, im sowjetischen Lager aber nicht, da er ja selbst ein Kommunist gewesen sei.

Gleichwohl irritiert der Aufklärer Gauck, indem er die gern im Zuge der 68er-Zeit und von Funktionseliten der DDR wiederholte Floskel zur verweigerten NS-Aufarbeitung bestärkt, es habe sich nach 1945 in der Bundesrepublik um eine Zeit des „Verschweigens“ gehandelt. Schließlich – so der Philosoph Hermann Lübbe – seien die NS-Verbrechen bekannt gewesen, weshalb der Begriff des „Beschweigens“ vorzuziehen sei.

Und heute? Linke Rechtfertigungen, meint der Pädagoge Gauck, seien so reaktionär wie rechte: „Deshalb wollen wird den Kommunismus noch benennen dürfen als etwas, das ein Irrtum ist.“ Was 1990 ein Konsens der Ablehnung war, wäre demnach heute fast wieder salonfähig.

Audio-Mitschnitt unter: www.stiftung-aufarbeitung.de

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