© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Als die Deutschen weg waren
Ein Roman über die polnischen Neuankömmlinge in Schlesien nach der Vertreibung seiner früheren Bewohner
Sabine Haske

Ist da wer?“ (Jest tam ktos?) Diese Frage sei es gewesen, die landauf, landab in den Jahren nach 1945 in Schlesien gestellt worden sei; gestellt von den ankommenden Polen, die die Häuser, Gärten, Ställe, Betriebe der Deutschen betraten, die das Land zuvor verlassen mußten. So jedenfalls schildert es die 1985 geborene Autorin Sabrina Janesch in ihrem Romanerstling „Katzenberge“, für den sie im Januar 2011 mit dem „Mara-Cassens-Preis 2010“ ausgezeichnet wurde. Mit diesem Preis zeichnet das Literaturhaus Hamburg den laut Leserjury gelungensten Erstlingsroman eines Jahres aus. Dieser Tage hat dieser Roman eine Neuauflage im Paperback-Format erfahren.

Die Autorin hat sich einem Thema gewidmet, das literarisch in dieser Form wohl erstmals behandelt wird: Wie fühlt es sich eigentlich an, in ein Land zu kommen, in dem die Bewohner vertrieben wurden und in dem alles, aber auch alles leer steht und fremd ist? Die Bauernhäuser, die Schlösser, die Häuser in den Städten, Schulen, Universitäten, Fabriken, meist alles vollständig eingerichtet. Durch zahllose Filme und Bücher werden uns „die letzten Tage“ von Ostpreußen, Pommern, Schlesien vergegenwärtigt. Aber was geschah eigentlich nach den letzten Tagen?

Janesch schildert dies nun detailreich und phantasievoll anhand der Erinnerungen eines selbst aus Galizien vertriebenen Polen, der sein neues Zuhause in Schlesien sucht, genauer gesagt in Ritschedorf (Osola) nahe der Kleinstadt Obernigk (Oberniki Slaskie) am Fuße des Katzengebirges, eines Höhenzuges etwa 25 Kilometer nördlich von Breslau.

Der Neuankömmling ist der Großvater der Protagonistin des Romans. Seine Erinnerungen an die eigene Vertreibung aus Galizien und seine Ankunft in Schlesien werden mit den eigenen Erlebnissen der Erzählerin, einer jungen Frau aus Berlin, halb Deutsche, halb Polin, verknüpft. Diese begibt sich auf Spurensuche nach einem Famillengeheimnis durch das ländliche, nun von ihren aus Galizien stammenden Verwandten und Bekannten bewohnte Schlesien, weiter nach Ostpolen bis über den Bug in die Ukraine, um die Heimat ihrer Vorfahren aufzusuchen.

Dabei begegnen ihr eine Vielzahl von Geistern und Dämonen – eigentlich spukt es überall. Es werden Kräuter gesammelt, tote Eulen an die Türen genagelt und Bannungen vorgenommen, um die Geister abzuhalten. Die Geister dürften wohl durchaus als das Trauma der Neuankömmlinge gewertet werden, das Trauma, die Vertriebenen könnten wiederkommen.

Einer dieser Untoten ist der frühere Eigentümer des Bauernhofes, den der Großvater in Besitz nimmt, er hängt, wie der Neuankömmling 1945 feststellt, noch immer tot auf dem Dachboden. Recht emotionslos wird er schlicht irgendwo vergraben, zusammen mit seinem Hakenkreuz, das er über der Eingangstür seines Bauernhofes angebracht hatte. Es wird zwar noch ein Kreuz errichtet. Dies geschieht jedoch nicht zu seiner Erinnerung, sondern um ihn und überhaupt alle Deutschen lebendig oder tot fernzuhalten.

Und dies ist nun der Punkt, der Autorin mit Unverständnis zu begegnen. Während mit Eifer der alten galizischen Heimat gedacht wird und beklagt wird, unversehens sei aus dem polnisch-galizischen Dorf Zdzary Wielkie das ukrainische Dorf Zastavne geworden, findet gleiches mit den Orten in Schlesien statt. Doch kann man eine Vertreibung schildern, gegenüber der anderen Vertreibung aber stumm bleiben? Dies ist um so verwunderlicher, als es von der Protagonistin des Romans heißt, ihre väterliche Familie sei eine von den Familien gewesen, die aus Schlesien gehen mußten. Die väterliche Seite ist aber keiner Erwähnung wert.

So ist das Fazit zwiespältig. Auf der einen Seite bleibt das Verdienst, den Blick auf den polnisch-ukrainischen
Konflikt der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit seinen Tausenden von Toten gelenkt zu haben, das leere Schlesien nach der Vertreibung der Deutschen zu beschreiben und die Stimmung der ersten Nachkriegsmonate menschlich nachvollziehbar zu illustrieren. Auf der anderen Seite fallen die Ungleichbehandlung und die deutlichen Ressentiments gegenüber dem „deutschen“ Schlesien auf.

Insgesamt handelt es sich um einen mitreißenden Roman, der das Thema Vertreibungen des 20. Jahrhunderts behandelt. Ein Thema, das seit einigen Jahren durch diverse prominente Bücher oder Filme verstärkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewinnen konnte, nachdem es jahrelang, ja jahrzehntelang fast ausschließlich in „Vertriebenen-Erlebnis-Büchern“ abgehandelt wurde; auch wenn man über die Qualität der Bücher wie Grass’ „Im Krebsgang“ oder Julia Francks „Die Mittagsfrau“ und Filme wie „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler geteilter Meinung sein kann.

Auffallend ist, daß das literarische Erinnern häufig an die angebliche oder tatsächliche eigene Familiengeschichte angeknüpft. Die Großväter- und Großmüttergeneration wird nach ihren Erlebnissen befragt, und diesmal nicht deshalb, um mit der Attitüde des Staatsanwalts eine eigene dunkle Familiengeschichte aufarbeiten zu müssen. Vielmehr geht es in dieser neuen Sichtweise auf das 20. Jahrhundert um die Erlebnisse der ganz normalen, meist einfachen Menschen. Es geht um die Opferperspektive. Was haben sie erlebt, was haben sie erlitten? Wie war es, aus seinem Heimatdorf zu fliehen, wie war es, sich in Feldern oder Wäldern zu verstecken, mit wenig gerettetem Hab und Gut durch Flüsse zu schwimmen oder über Eisflächen zu wandern und sich an fremden Orten einzufinden, die nun die neue Heimat werden sollten?

Es ist gut, daß es jetzt möglich ist, sich auf diese Weise der Geschichte zu nähern.

Sabrina Janesch: Katzenberge. Aufbau Verlag, Berlin 2012, broschiert, 288 Seiten, 9,99 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen