© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Furcht vor Rache
Berlin: Der Fall eines Deutschen, der in Notwehr einen arabischen Jugendlichen erstochen hat, offenbart eine schwierige Gemengelage
Ronald Berthold

Es war eine Hetzjagd. Mindestens 20 Türken und Araber, wahrscheinlich sogar mehr, jagten vorvergangenen Sonntag zwei deutsche Männer quer durch den Berliner Bezirk Neukölln. Am Ende dieser Hatz war ein 18jähriger Araber tot – niedergestochen vom Gejagten. Der 34 Jahre alte Sven N., der Yussef El-A. ins Herz gestochen hatte, bleibt jedoch auf freiem Fuß. Die Polizei erkannte nach intensiven Befragungen auf Notwehr. Sven N. war während des Verhörs zusammengebrochen – er hatte vor dem von ihm ausgeteilten tödlichen Messerstich einen Schädelbasisbruch erlitten.

Nun sinnt die multikulturelle Neuköllner Szene auf Rache. Im sozialen Netzwerk Facebook wurde massiv zur Gewalt gegen Sven N. aufgerufen. Auch gegenüber Journalisten nahmen Yussefs vermeintliche Freunde kein Blatt vor den Mund. „Da kommt auf jeden Fall noch was“, sagte ein Araber dem Tagesspiegel: „Wenn es mein Bruder wäre, den man abgestochen hat, würde ich den Kerl auch fertigmachen.“ Und ein anderer ergänzt: „Ich kann zu hundert Prozent garantieren, daß das ein Nachspiel haben wird. Das hier ist ein eigener Kosmos mit eigenen Gesetzen.“  Droht in Berlin-Neukölln also Selbstjustiz?

Die Polizei ist jedenfalls nun mit psychologisch geschulten Kräften im Einsatz, Mitarbeitern des Arbeitsgebiets Integration und Migration. Man will der aufgebrachten „Community“ die deutsche Rechtslage erklären. Der Vater des Toten hat inzwischen appelliert, kein weiteres Blut zu vergießen. Dennoch macht der aufkommende Ruf nach „Rache“ den Beamten ernsthafte Sorgen. Vor Sven N.s Krankenhaustür schieben Beamte Wache. Und auch dessen 39 Jahre alter Freund Oliver H. braucht Polizeischutz.

Was war passiert? Auf einem Bolzplatz kickten N. und H. mit Jugendlichen und jungen Männern, bis es wegen eines über den Zaun geschossenen Balles zur Schlägerei kam. Die beiden Älteren wollten, so die Polizei, schlichten. Doch plötzlich vereinigten sich die anderen gegen sie. Die Männer flüchteten – gehetzt von den wütenden und bewaffneten Freizeitfußballern – in Oliver H.s Wohnung.

Das Mietshaus wurde daraufhin belagert, die Männer drohend aufgefordert, auf die Straße zu kommen. Sven N. gab nach, nahm sich zur Sicherheit ein Küchenmesser mit und wollte offenbar – so die Polizei – beruhigend auf den Mob einwirken. Dies scheiterte. Die jungen Männer warfen ihn zu Boden und sich dann auf ihn. Offenbar, so liest sich die offizielle Darstellung, sollte N. gelyncht werden. In Todesangst stach er um sich und traf dabei Yussef ins Herz. Der 18jährige starb kurz darauf.

Für viele im Kiez ist er nun so etwas wie ein Märtyrer, dessen Tod gerächt gehört. Ein Blumenmeer ziert den Tatort, zur Beerdigung auf dem islamischen Friedhof kamen am vergangenen Freitag rund dreitausend Menschen. Der Imam Ferid Heider rief den Trauernden dabei mitten in Berlin zu: „Yussef ist ein Märtyrer!“ Daß der Tote in der Gegend bekannt war, weil er sich im Jugendbeirat engagierte, ist aber nicht der Grund für den Auflauf. Vielmehr scheinen die meisten auf ein Fanal gewartet zu haben, um sich zu solidarisieren und anzuklagen. Der Imam bestätigte sie in ihrem Gefühl.

Obwohl nun viele Yussefs soziales Engagement im Jugendbeirat loben, scheint er nicht nur der nette Junge von nebenan gewesen zu sein. Wegen schweren Diebstahls war er vorbestraft. Aber auch Sven N. ist polizeibekannt. Der Schwerverletzte wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Anwohner beschreiben ihn als jemanden, der auch mal ausflippt und zuschlägt. Es ist eine schwierige Gemengelage.

So bleiben Fragen. Wie zum Beispiel kam Yussef El-A., der bei der Auseinandersetzung auf dem Bolzplatz nicht dabei war, auf den Körper des am Boden liegenden Sven N.? Deeskalierend soll er nach Zeugenaussagen nicht auf die Meute eingewirkt haben. Es heißt, der später Erstochene sei – wie andere auch und wie es bei arabischen und türkischen Cliquen üblich ist – angerufen worden, um die Angreifer zu verstärken.

Dies sei üblich, sagt ein arabischer Jugendlicher, der das Wildwest-Prinzip gutheißt. Wenn einer der Kumpels Streit habe, würden die anderen bedingungslos hinter ihm stehen. Es gehe nicht darum, ob er recht oder unrecht habe. Auch der Anlaß für die Auseinandersetzung spiele keine Rolle. Entscheidend sei die Gruppe. Und die bestehe meist aus einer Nationalität. Im multikulturellen Neukölln, das ist nicht neu, kämpfen kleine Hobby-Armeen einzelner Ethnien gegeneinander. Manchmal reicht ein Foul auf dem Fußballplatz aus. Und manchmal liegt am Ende irgend jemand tot auf der Straße.

Foto: Trauerzug für Yussef El-A. durch Berlin-Neukölln nach dem Freitagsgebet: Manchmal reicht ein Foul auf dem Fußballplatz

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