© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Ohne Zins und Zinseszins
Wirtschaftstheorie: Die Finanzkrise hat den vor 150 Jahren geborenen Silvio Gesell wieder aktuell gemacht
Marco Meng

Die Weltfinanzkrise und ihre verheerenden Folgen haben nicht nur in Ökonomie und Politik grundsätzliche Systemfragen neu aufgeworfen. Speziell in den Wirtschaftswissenschaften werden seit der Lehman-Pleite 2008 die dominierenden Denkschulen in Frage gestellt. Nur eine Minderheit der renommierten Ökonomieprofessoren hatte rechtzeitig vor den verheerenden Folgen des billigen Geldes und des völlig von der Realwirtschaft abgehobenen Kasinokapitalismus gewarnt.

In der Krise kam nicht nur der seit Reaganomics und Thatcherismus verpöhnte John Maynard Keynes wieder in die Diskussion. Auch vermeintlich abseitige Theorien wecken angesichts der längst nicht bewältigten Folgen der Finanz- und Euro-Krise bei manchem neues Interesse. Dazu zählt auch die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells, der 1922 in seiner Parabel über „Die Wunderinsel Barataria“ ein „meisterhaftes Lehrstück zur Einführung in eines der schwierigsten Kapitel der Nationalökonomie: der Geld- und Zinstheorie“, verfaßt hat, wie der heutige Euro-Kritiker und Chef der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Joachim Starbatty, in einer kritischen Würdigung seiner Geldordnung bemerkte.

Am 17. März 1862 im rheinländischen Sankt Vith geboren, ging Gesell 1887 nach Buenos Aires, wo er sich selbständig machte. Die dortige Wirtschaftskrise brachte ihn zum Nachdenken über die Ursachen von Inflation und Deflation, von ungerechter Verteilung und Arbeitslosigkeit. Er beobachtete, daß sich seine Waren einmal zu hohen Preisen schnell verkauften, manchmal jedoch nur langsam, selbst zu Niedrigpreisen. Daß dies nichts mit der Warenqualität oder dem Bedarf zu tun haben konnte, wurde ihm bald klar – es hatte mit dem Preis des Geldes auf dem Geldmarkt zu tun.

Gesell stellte fest, daß die Nachfrage wuchs, wenn die Zinsen niedrig waren, und sank, wenn diese hoch waren. Vor allem erkannte Gesell den großen Schwachpunkt unseres Geldsystems: die Verzinsung und die Hortbarkeit des Geldes. Das eine führt, so schlußfolgerte er, durch Zins und Zinseszins zu einer ungerechten Verteilung der Geld- und Produktivvermögen, während die Hortung von Geld zu Absatzstörungen und damit Arbeitslosigkeit führt.

Diese und weitere Gedanken, die er 1916 in seinem Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ formulierte, machten Gesell zum Begründer der Freiwirtschaftslehre. Wegen seines Selbststudiums als „ökonomischer Dilettant“ verlacht oder in die „sumpfige Grenzzone des frei schweifenden Abenteurertums“ (Wilhelm Röpke) abgeschoben, glaubte etwa Keynes, daß „die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird“.

Mit Bernd Senf, bis 2009 VWL-Professor an der HWR Berlin, hat er sogar einen akademischen Erben, der Teile der Freiwirtschaftslehre verteidigte: „Gesell hat mit seiner fundamentalen Zinskritik ein Tabu angerührt“, sagt Senf. Daß das Geld Tausch-, Wertaufbewahrungs- und Spekulationsmittel ist, ist Allgemeingut, „aber keiner hat so klar wie Gesell erkannt, daß sich diese unterschiedlichen Funktionen in einem unversöhnlichen Widerspruch oder Gegensatz zueinander befinden, daß das bisherige Geld sozusagen in seinem Wesenskern gespalten ist“. Diese Spaltung treibe den Zins hervor, „der seinerseits eine Fülle von Krisen und die Spaltung der Gesellschaft bewirkt“ und „die Wirtschaft unter einen permanenten Wachstumszwang“ setzten.

Statt denjenigen Zinsen zu zahlen, die mehr Geld haben, als sie benötigen, müsse das Geld zurück in den Umlauf fließen, forderte Gesell. Es solle der Wirtschaft nur als Tauschmittel dienen. Wer Geld vom Umlauf zurückhält, müsse daher eine Gebühr zahlen – eine Forderung, zwar anders als von Gesell erwünscht, die längst Praxis ist: Zinsen unterhalb der tatsächlichen Inflationsrate haben die Realverzinsung für Euro-Sparer negativ werden lassen.

Auch Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek schrieb in seinem Werk über die „Entnationalisierung des Geldes“, daß viele nicht erkannt hätten, „daß uns die Regierung in stärkerem Maße als irgendeine private Unternehmung mit dem Schwundgeld versorgt“, als das von Gesell empfohlen worden war. Gesell hatte unter dem Einfluß der Wirtschaftskrisen Argentiniens erkannt, daß eine gleichmäßige Umlaufgeschwindigkeit des Geldes für eine krisenfreie Wirtschaft von hoher Bedeutung ist. Sein Geld sollte natürlichen Dingen nachgebildet sein, weil es frei von Zinsen war, nannte er es „Freigeld“. Weil dadurch Inflation und Deflation weitgehend überwunden werden könnten, würde automatisch auch der Inflationsausgleich im Zins wegfallen.

1892 kehrte Gesell nach Europa zurück und ließ sich in der Schweiz nieder, wo er einen Bauernhof erworben hatte. Von 1907 bis 1911 lebte Gesell wieder in Argentinien und siedelte sich schließlich in Oranienburg bei Berlin an. In den Nachkriegswirren 1919 wurde Gesell für sieben Tage „Volksbeauftragter für Finanzen“ in der Münchner Räteregierung, was ihm eine mehrmonatige Haft einbrachte. Die von linken Kritikern unterstellte NS-Nähe Gesells ist schon deshalb absurd, weil Gottfried Feder (Autor des NSDAP-Programms) ihn als „gefährlichen Propheten“ brandmarkte und seine Ideen als „Irrlehre“ verteufelte.

Die praktische Umsetzung seiner Ideen konnte Gesell wegen seines frühen Todes am 11. März 1930 nicht mehr erleben. In der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre wurden dennoch einige Versuche mit zinsfreiem Geld gemacht. Die österreichische Gemeinde Wörgl hatte bereits in den Krisenjahren 1919/20 erfolgreich mit Notgeld operiert. Im Krisenjahr 1932 folgten dann die „Freien Schillinge“ im Sinne Gesells, die durch den gleichen Betrag an gewöhnlichen Schillingen bei der Bank gedeckt wurden. Die Benutzungsgebühr für dieses Freigeld betrug ein Prozent monatlich, also zwölf Prozent pro Jahr. Die Gebühr mußte von demjenigen entrichtet werden, der die Freigeldnote am Monatsende besaß. Sie wurde in Form einer Marke auf die Rückseite geklebt – ansonsten war die Banknote ungültig. Die geringe Gebühr bewirkte, daß ein jeder die Freien Schillinge so schnell wie möglich wieder ausgab.

Innerhalb eines Jahres waren die 32.000 Freien Schillinge mehr als 400mal umgelaufen und hatten so Güter und Dienstleistungen im Wert von 12.800.000 Schillingen geschaffen. Während in Europa und den USA die Erwerbslosigkeit dramatische Ausmaße annahm, verminderte Wörgl seine Arbeitslosenquote um ein Viertel. Der Modellversuch wurde als „Wunder von Wörgl“ gefeiert. Sogar der französische Finanzminister Édouard Daladier reiste zum Lokalaugenschein dorthin. Der Ökonom Irving Fisher schlug der US-Regierung – allerdings vergeblich – vor, ein Freigeld zur Lösung der Wirtschaftskrise einzuführen. „Freigeld könnte der beste Regulator der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sein, die der verwirrendste Faktor in der Stabilisierung des Preisniveaus ist“, so der renommierte Preis- und Kapitaltheoretiker. Als sich schließlich Hunderte Gemeinden in Österreich dafür begeisterten, sah die österreichische Nationalbank ihr Geldmonopol gefährdet. Sie intervenierte und verbot das Drucken dieses lokalen Geldes.

Anfang der siebziger Jahre brach das System von Bretton Woods zusammen. Die USA hoben die ohnehin nur theoretische Goldbindung des Dollar auf, es entstanden freie Wechselkurse – beides waren auch Ideen von Gesell. Doch seine Forderung nach einem stabilen Geldwert erfüllte sich nicht, denn die USA finanzierten ihren Vietnamkrieg mit der Druckerpresse. Entschuldung durch Geldmengenausweitung und Inflation ist ein Thema, daß angesichts der Schuldenkrise wieder hochaktuell ist.

Daß nach Crash und Währungsreform aber ein Gesellsches Freigeld eingeführt wird, ist ähnlich unwahrscheinlich wie die Umsetzung von Hayeks Forderung „nach Freiheit bei der Geldschaffung“, also die Brechung des Zentralbankmonopols und die Emittierung von Privatgeld, das sich im Wettbewerb bewähren muß.

Informationen über Silvio Gesell bei der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung:  www.silvio-gesell.de

Zeitschrift „Humane Wirtschaft“: www.humane-wirtschaft.de

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