© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Den Untergang der Welt locker geschultert
Anleitung zum Selberdenken: Konrad Kustos’ „Chaos mit System“ weckt den Widerstandsgeist gegen Absurditäten
Ronald Berthold

Auf der ersten Seite prangt ein Signet gegen die politische Korrektheit. Dieser Begriff und das Wort „Denkverbot“ sind durchgestrichen. Der Leser weiß also sofort, daß Lektüre aus dem Giftschrank auf ihn wartet, den das Establishment am liebsten nur mit einem Geheimschlüssel öffnen lassen würde.

„Chaos mit System“ ist zwar das gefühlt tausendste Buch, das sich gegen den Tugendterror der selbsternannten Eliten wendet. Und dennoch hebt sich dieses Werk auf bemerkenswerte Weise von anderen Büchern ab, die – was durchaus wichtig ist – vor allem anprangern. Auf den 450 Seiten, die „Die sieben Säulen des Niedergangs“ (so der Untertitel) beschreiben, finden sich aber endlich Lösungsvorschläge und Anhaltspunkte, die weitverbreiteten kontraproduktiven Theorien zu durchschauen.

Vor uns liegt eine Anleitung zum Selberdenken. Der Autor Konrad Kustos appelliert an das intuitive Mißtrauen, das viele gegen solche Erklärmodelle hegen, das wir aber tief im Unterbewußtsein vergraben haben, weil wir uns daran gewöhnt haben, bestimmte Dinge gar nicht mehr zu hinterfragen. Das Buch animiert dazu, dieses Bauchgefühl mit unserem Verstand zu kombinieren.

Vor allem die Wissenschaft, mit der heute von Migration bis Klimawandel so ziemlich alles unterfüttert wird, nimmt der Autor aufs Korn. Er sieht aber auch eine nicht mehr zu kontrollierende „Informationslawine“, die auch die Psyche beeinflußt. „Die Menschen verändern sich durch die dauernde Überforderung. Sie weichen aus, ziehen sich zurück, adaptieren beliebige Verhaltensweisen“, schreibt er. Sie fördern somit den Niedergang, dessen Opfer sie eigentlich sind.

Wer in unsere Innenstädte schaut, dem mag gar nicht mehr auffallen, daß sich dort Geschäfte angesiedelt haben, die es vor fünf Jahren überhaupt noch nicht gab: Nagelstudios. Es ist nur ein winziges Detail, aber doch ein Indikator für einen schleichenden Wandel: „Die Menschen leben nicht mehr aus ihrem Selbstverständnis, sondern fühlen sich gezwungen, und sei es über das Lackieren von Fußnägeln, sich Pseudopersönlichkeiten zuzulegen.“

Kustos zeigt, wie sehr krude Denkweisen ganz tief und unmerklich in unseren Alltag eingedrungen sind. Sein Buch weckt den Widerstandsgeist, sich gegen diese Manipulationen zu wehren. Ausführlich stellt er die Säulen dar, auf denen der Niedergang fußt. Hier können sie nur stichwortartig genannt werden: zum Postkapitalismus pervertierte Wirtschaft und Politik, ein dekadentes Bildungssystem, Individualismus, destruktives Sozialverhalten, deformierte Sprache, Flucht in die Virtualität und die angesprochene fatale Wissenschaftsgläubigkeit.

All dies wird gerahmt von der Erkenntnis, daß lineares, also einseitiges und isoliertes Denken nicht zur Problemlösung taugt. Dafür sind die Probleme zu komplex geworden. Kustos inspiriert zum kybernetischen Denken, also zum Vernetzen und Gewichten möglichst vieler Parameter eines Problems – unter Einbeziehen von Erfahrungen und Gefühlen.

„Chaos mit System“ hilft, der Absurdität der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen. Einer Absurdität, gegen die wir manchmal Position beziehen, über die wir uns aber auch meistens nur so maßlos wie hilflos ärgern. Oft scheint uns klar, woher das Absurde kommt, aber ebenso oft ist diese scheinbare Erklärung selbst nur ein diffuses Phänomen und verstört uns eher, als daß sie beruhigt. Das mag daran liegen, daß jede aktuelle Fehlentwicklung aus einem Geflecht historischer und struktureller Fehlentwicklungen resultiert, während unser Verstand sich gern einfache Ursachen zur Erklärung sucht.

Der Buchautor geht in seiner Analyse den umgekehrten Weg. Trotz einer Zusammenschau von unzähligen hochinteressanten und teilweise amüsanten Einzelbeobachtungen, nimmt er den Blick weg vom Detail und richtet ihn auf das Ganze und dessen Zusammenhänge. Er schult den Leser, Strukturen hinter dem scheinbar Normalen zu erkennen. Dabei ist ein Werk entstanden, das man mit gängigen Kriterien kaum einordnen kann. Am besten spricht man vielleicht von einem rund 450 Seiten langen populärphilosophischen Essay, das vollkommen ohne Verschwörungstheorien oder andere vereinfachende Erklärungsmodelle auskommt.

In Kustos’ Katastrophenszenario, das er „Niedergangsgesellschaft“ nennt, ist kein Platz für die üblichen, mediengemachten Katastrophenthemen wie Atomkraft oder Klimaerwärmung; höchstens wenn er an diesen Beispielen zeigt, welcher Methoden sich die Bauernfänger des Niedergangs bedienen. Er schreibt statt dessen über die Unbeherrschbarkeit sich sprunghaft vergrößernden Wissens („Informationskatastrophe“), über den Verlust des Erfahrungswissens, über Globalisierung, über die Virtualisierung der Wirklichkeit und das Versagen bisher erfolgreicher Weltbilder.

Es geht gegen die Weltverbesserungsideologien der Political Correctness – von Kustos „Poco“ abgekürzt –, um die Unfähigkeit, mit zuviel Freiheit zu leben, um Dekadenz sowie um gefährliche Fehlinterpretationen von Humanismus, Aufklärung und Toleranz. Das ist teilweise höchst brisant, und nicht von ungefähr ist „Konrad Kustos“ nur das Pseudonym eines bekannten Berliner Journalisten. Alles zusammen führt nach Kustos zu einer Umkehrung gesellschaftlicher Evolutionsprozesse und mündet in einem Kollaps der für das Überleben der Gesellschaft notwendigen Kooperation.

Das Ganze liest sich nicht immer einfach, wird aber niemals akademisch und öffnet vor allem neue Blickwinkel. Viele Bilder, geistreiche Merksätze und witzige Einschübe erhöhen den Lesespaß. Im Gegensatz zu Spenglers „Untergang des Abendlandes“ sieht Kustos kein zyklisches Auf und Ab von Kulturen, sondern den naturnotwendigen Untergang jeder hochentwickelten Zivilisation. Gleichzeitig spürt man sein Bemühen, sich dem nicht auszuliefern, sondern Wege aus dem Dilemma zu finden. Am Ende, also in den beiden letzten „Säulen des Niedergangs“, hat er auch faszinierende Überlegungen und Vorschläge parat, die hier nicht verraten werden können und sollen, weil sie sich erst nach der Lektüre des Vorangegangenen richtig erschließen.

Kustos hat sich mit seinem Buch viel vorgenommen, und gern unterstellen wir Leuten, die dicke Bretter bohren wollen, daß sie sich automatisch übernehmen. Nicht so Kustos: Er schultert den Untergang der Welt mit einer souveränen Lockerheit und das oft geradezu unterhaltsam. Er gibt keine fertigen Antworten, sondern er bringt uns zum Selberdenken und zum Stellen völlig neuer Fragen. Am Ende steht dennoch nicht weniger als eine sozialphilosophische Formel, die hilft, den Irrsinn um uns herum zu verstehen und in gewisser Weise auch zu ertragen.

Konrad Kustos: Chaos mit System. Die sieben Säulen des Niedergangs. Copo, Hamburg 2011, gebunden, 464 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 19,77 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen