© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Phantomjagd im Netz
Ein amerikanisches Werbevideo wird zum Lehrbeispiel, wie das Web 2.0 die Welt verändert
Ronald Berthold

Wer in Europa oder Amerika kennt sich mit den Bürgerkriegen in Afrika aus? Wer weiß, was im Kongo genau geschieht, wer hat wirkliche Kenntnisse über den Sudan oder Uganda? Und wer kann bei all den Konflikten wirklich einschätzen, welche Seite im Recht ist? Es sind vergessene Kriege, die überall auf dem schwarzen Kontinent toben. In den Medien außerhalb Afrikas finden sie wenig Niederschlag und noch weniger Leser. Dem Feld der potentiellen Manipulation ist Tür und Tor geöffnet.

In diese Lücke stößt die Kampagne „Kony 2012“. Ein dazugehöriger Film, der am 5. März auf Videoportalen eingestellt und über soziale Netzwerke im Internet verbreitet wurde, bricht derzeit alle Rekorde. Innerhalb von fünf Tagen riefen 70 Millionen Nutzer das Internetvideo auf. Noch nie zuvor hat es laut des Webanalyse-Unternehmens Visible Measures eine sich derart schnell verbreitende Social-Video-Kampagne gegeben. „Kony 2012“ schlägt locker jeden einzelnen „Harry Potter“-Film. Wenn es noch eines Beweises für die Macht des Web 2.0 bedurft hätte, das Werk über Joseph Kony, den ugandischen Rebellenführer, hat ihn erbracht.

In kürzester Zeit können Profis die Weltbevölkerung für die abseitigsten Themen interessieren und engagieren. In diesem Fall ist es die kalifornische Organisation „Invisible Children“ (Unsichtbare Kinder) mit ihrem Vorsitzenden, dem Regisseur Jason Russell, die bestimmt, was auf der Agenda steht. Joseph Kony dürfte vor dem Video nur einer winzigen Minderheit außerhalb Afrikas bekannt gewesen sein. Im Film selbst heißt es: „99 Prozent des Planeten kennen ihn nicht.“

Entscheidend für den Erfolg einer solchen Internetkampagne ist ganz augenscheinlich die Machart, nicht das Thema. Die Menschen müssen gerührt werden. Russel setzt seinen Sohn, einen Fratz vom Typ Flipper-Junge, vor die Kamera, zeigt ihm ein Bild von Kony und sagt: Der ist böse. Der Kleine wiederholt das und bricht damit die Herzen der Zuschauer. Wer so etwas schafft, dem scheint der Durchbruch sicher – unabhängig vom Wahrheitsgehalt.

Worum geht es in dem sehr emotional gestrickten Film? Joseph Kony, ein christlicher Rebellenführer, rekrutiert für seine Armee Kindersoldaten und bringt scheinbar wahllos Tausende Gegner um. Selbsternanntes Ziel des Films ist die Festnahme Konys bis zum Ende dieses Jahres.

Offen ist, wie viele Nutzer sich nach dem Konsum des Films für Uganda-Experten halten. Wahrscheinlich ist, daß sich viele auf die Seite der Filmemacher stellen, denn sonst wäre das Werk nicht millionenfach gepostet worden. Sicher ist, daß der Film die Situation in dem afrikanischen Land verkürzt und einseitig darstellt. Vorsicht ist geboten, auch wenn es wahrscheinlich ist, daß Kony tatsächlich der Schlächter ist, als den ihn der Film darstellt. Seit 2005 sucht ihn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag mit internationalem Haftbefehl. Aber gerade in Afrika verlaufen die Konfliktlinien oft unübersichtlich. Aktionen und Reaktionen sind für Außenstehende nicht immer in einer halben Stunde nachvollziehbar.

Aber in eben jenen 30 Minuten versucht Russell der Welt den Bürgerkrieg in Uganda zu erklären, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und Kony für vogelfrei zu erklären. Das kann nicht gutgehen und tut es auch nicht. Die Kriegsgreuel anderer beteiligter Parteien werden unterschlagen, merken Experten an. Daß Kony vom sudanesischen Präsidenten unterstützt wird, weiß nach dem Film niemand. Denn Russell behauptet, er sei völlig isoliert.

Fakt ist, daß Kony Uganda bereits vor sechs Jahren verlassen hat. Der Film sagt nicht, daß es seine Kindersoldaten so in dem Land gar nicht mehr gibt. Statt dessen wird die Zahl 30.000 in den Raum gestellt. In Wirklichkeit sollen es noch 150 bis 250 sein. Die Aufnahmen des Jungen Jacub, der in dem Film zu Wort kommt, stammen aus dem Jahr 2003. Jacub ist längst erwachsen. Und mit der heutigen Lage hat dies nichts mehr zu tun.

Cui bono? Wem nutzt die Jagd auf den Rebellenführer, muß daher die Frage lauten. Die Filmemacher verschweigen, daß „Invisible Children“ ugandische Truppen und die Sudanesische Volksbefreiungsarmee unterstützt. Beiden werden ebenfalls Plünderungen und Mißhandlungen vorgehalten. „Invisible Children“ sieht sich zudem dem Vorwurf ausgesetzt, zu viele seiner Spendeneinnahmen (nach Eigenangabe acht Millionen US-Dollar) für Gehälter der über hundert Angestellten und die Filmproduktion zu verwenden. Im vergangenen Jahr gab die Organisation lediglich 31 Prozent der gespendeten Gelder für Hilfsprojekte in Uganda aus.

All dies wissen die Zuschauer nicht. Sie werden vielmehr gefühlsmäßig aufgewühlt und verspüren den Drang, „Invisible Children“ zu helfen, zu spenden und das Video weiterzuverbreiten.

Wer sich geschickt des Internets, der sozialen Netzwerke bedient, ist imstande, sehr viel Aufmerksamkeit zu erregen. Mit Hilfe des Web 2.0 kann rasend schnell Halbwissen und enorme Manipulation unter die Menschheit gebracht werden. Daß die Entwicklung des World Wide Web daher nicht nur Segen, sondern auch Gefahr ist, ruft die Kony-Kampagne damit gerade wegen ihres sensationellen Erfolges eindrücklich ins Bewußtsein.

Foto: Kony 2012: Der Film über den Rebellenführer (oben) und seine Kindersoldaten soll eine weltweite Bewegung ins Leben rufen

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