© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

EU-Richter entrechten schleichend die Mitgliedstaaten
Diebe in Roben
Jochen Theurer

Stoppt den Europäischen Gerichtshof!“ forderte der ehemalige Bundespräsident und Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog bereits im Jahr 2008. Wie viele andere beklagt auch er eine Aushöhlung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten durch „immer fragwürdigere Urteile aus Luxemburg“. Und in der Tat: Die Organe der EU legen ihre Befugnisse tendenziell weit aus und regeln auch solche Bereiche, die nach den Verträgen allein Mitgliedstaaten vorbehalten sind, zum Beispiel im Strafrecht.

Der Europäische Gerichtshof bescheinigt in seinen Entscheidungen praktisch immer die Rechtmäßigkeit solcher Kompetenzausweitungen. Zudem legt er seine Befugnisse selbst regelmäßig weit aus. Unter dem Deckmantel der richterlichen Rechtsfortbildung schafft er mit teils abenteuerlichen Begründungen Regelungen, die ausdrücklich dem Wortlaut der Verträge widersprechen.

Besonders deutlich wird das am Beispiel der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Artikel 288 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union bestimmt, daß EU-Verordnungen unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten. Dagegen sind EU-Richtlinien nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Die Mitgliedstaaten können selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen, um das Ziel bis zu dem in der Richtlinie bestimmten Zeitpunkt erreichen. Rechte und Pflichten für die Bürger ergeben sich erst und nur aus den nationalen Umsetzungsgesetzen, nicht aus der Richtlinie selbst. Eine Richtlinie beläßt den Mitgliedstaaten somit mehr Freiheit zu eigenständigem Handeln. Trotz dieser eindeutigen Regelung hat der Europäische Gerichtshof entschieden, daß eine Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen doch unmittelbar anwendbar sein und damit wie eine Verordnung wirken soll. 2005 behaupteten die Richter sogar, eine nationale Vorschrift dürfe schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht angewendet werden, wenn sie dem Ziel einer Richtlinie widerspricht.

Dadurch beanspruchten sie im Ergebnis für sich die Befugnis, die Bedeutung und den Anwendungsbereich von Gemeinschaftsrecht entgegen den Verträgen zu verändern. Diese Kompetenz steht ihnen – und allen anderen Gemeinschaftsorganen – nicht zu. Nach dem „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ hat die EU nur die Befugnisse, die ihr ausdrücklich durch die Verträge von den Mitgliedstaaten übertragen werden. Die EU kann ihre Befugnisse auch nicht selbständig erweitern, sie hat keine „Kompetenz-Kompetenz“.

Der normale Bürger nimmt das Gebaren der EU und ihres Gerichtshofes erstaunt bis fassungslos zur Kenntnis. Kann man die Aushöhlung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten wirklich nicht verhindern? Glaubt man der Bundesregierung und dem Bundesverfassungsgericht, ist das tatsächlich der Fall.

Wie oft haben Politiker schon erklärt, sie müßten ein unpopuläres Gesetz verabschieden, weil dadurch zwingende Vorgaben der EU umgesetzt würden? Und auch das Bundesverfassungsgericht meint, es könne Gemeinschaftsrecht nicht dahingehend überprüfen, ob es gegen Grundrechte verstößt oder kompetenzwidrig erlassen wurde. Doch dieser Eindruck täuscht.

Juristische Fragen wie die, ob die Gemeinschaftsorgane ihre Befugnisse überschreiten, lassen sich nicht logisch zwingend mit Ja oder Nein beantworten. Es gibt nicht „die“ richtige Lösung, sondern die Antwort muß im Rahmen einer Abwägung gefunden werden: Für welche der möglichen Alternativen sprechen die besseren Argumente? In diesem Fall stellt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, aufgrund des konkreten Verhaltens der Gemeinschaftsorgane einen Kompetenzverstoß zu bejahen.

Dabei gibt es jedoch keine zwingenden Kriterien, welche Argumente zu berücksichtigen und wie die einzelnen Argumente zu gewichten sind. Normalerweise kann man für jede juristische Position rational nachvollziehbare Argumente finden oder zumindest konstruieren. Das Ergebnis der Abwägung ist deshalb immer eine subjektive Entscheidung. Folglich kann man in allen Fällen auch juristisch korrekt begründen, daß die Gemeinschaftsorgane ihre Kompetenzen übertreten und illegal gehandelt haben. Schon der Verweis auf das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ und der Wortlaut der Verträge wären als Argumente völlig ausreichend. Es kommt deshalb nicht so sehr darauf an, welche juristischen Argumente es für oder gegen eine bestimmte Rechtsauffassung gibt. Entscheidend ist vielmehr, wessen Rechtsansicht praktisch wirksam wird. Im Moment ist das offensichtlich die Auffassung der EU und ihrer Organe. Doch ist das kein Naturgesetz. Die EU verfügt zwar über ein Heer von Bürokraten, sie hat jedoch noch keine eigenen Vollstreckungs- und Sanktionsorgane.

Sie kann deshalb ihre Rechtsauffassung niemandem aufzwingen, sondern ist auf „willige Vollstrecker“ in den Mitgliedstaaten angewiesen. Die beklagten „Kompetenzanmaßungen“ der EU sind schlagartig beendet, sobald diejenigen, die in den Mitgliedstaaten die erforderliche Macht und Autorität besitzen, den nationalen Vollstreckungs- und Sanktionsorganen entsprechende Anweisungen erteilen. In Deutschland sind das vor allem die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht.

Um eine weitere Aushöhlung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten zu verhindern, hat die Bundesregierung eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Sie könnte Vertragsänderungen  oder – Roman Herzog folgend – ein vom Europäischen Gerichtshof unabhängiges Kompetenzgericht anregen. Und schließlich könnte die Bundesregierung über ihren Vertreter in den Gemeinschaftsorganen dafür sorgen, daß keine Regelungen erlassen werden, die in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingreifen. Doch nichts von alledem geschieht.

Auch das Bundesverfassungsgericht kann die Kompetenzanmaßungen der EU jederzeit effektiv stoppen. Dazu müßte es nur jeden von den Gemeinschaftsorganen geschaffenen Rechtsakt als für in Deutschland unanwendbar erklären, wenn er gegen Grundrechte verstößt oder kompetenzwidrig erlassen wurde. An plausiblen juristischen Argumenten mangelt es nicht: Nach Artikel 1 Absatz 3 Grundgesetz ist hoheitliche Gewalt in Deutschland an die Grundrechte gebunden, nach Artikel 20 Absatz 2 geht alle Staatsgewalt vom Volk aus, und Artikel 19 Absatz 4 garantiert effektiven Rechtsschutz gegen jeden Akt der öffentlichen Gewalt. Eine Ausnahme für Gemeinschaftsrecht gibt es nicht. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht aber gerade in die entgegengesetzte Richtung. Nach einigem Hin und Her hatten die Verfassungsrichter 1993 erklärt, daß sie Gemeinschaftsrecht am Maßstab des Grundgesetzes überprüfen würden. Diese Prüfung werde sich auch darauf erstrecken, ob die Gemeinschaftsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen gehandelt haben. Als das Bundesverfassungsgericht dann jedoch Farbe bekennen mußte, ruderte es schnell zurück. 2002 teilte es mit, die Grundrechte seien erst dann wieder Maßstab für das Gemeinschaftsrecht, „wenn die europäische Rechtsentwicklung (...) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard“ abgesunken sei.

Mit der Überprüfung von Gemeinschaftsrecht auf Kompetenzverstöße war es 2010 vorbei. Auslöser dieses Gesinnungswandels war eine offensichtlich kompetenzwidrige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Nach der bisherigen Linie des Bundesverfassungsgerichts hätte diese Entscheidung in Deutschland nicht angewendet werden dürfen. Statt dessen erklärte das höchste deutsche Gericht völlig überraschend, daß ein Kompetenzverstoß nur dann beachtlich sei, wenn er zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten“ führt. In der Praxis läuft es darauf hinaus, daß das Bundesverfassungsgericht Gemeinschaftsrecht wohl nie wegen eines Kompetenz- oder Grundrechtsverstoßes beanstanden wird.

Auch wenn diese Entscheidung natürlich juristisch korrekt begründet werden kann (genauso wie das Gegenteil), stellt sich doch die Frage, warum sowohl die Bundesregierung als auch das Bundesverfassungsgericht nichts gegen die Kompetenzausweitungen der EU auf Kosten der Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten unternehmen. Eine mögliche Erklärung ist das „Spiel über die Bande“: Politiker, die ein bestimmtes Vorhaben im nationalen Parlament oder in der Öffentlichkeit nur schwer vermitteln können, regen bei den europäischen Stellen an, eine EU-weite Regelung über diesen Gegenstand zu treffen.

Diese Bitte wird zumeist dankbar aufgegriffen. In den Gemeinschaftsorganen stimmen die Politiker dann häufig selbst über die nun europäische Regelung ab. Anschließend können sie zu Hause darauf verweisen, daß sie die verbindlichen Vorgaben der EU „alternativlos“ umsetzen müssen.

Das Regieren wird so manches Mal vereinfacht. Über die Motive der Verfassungsrichter läßt sich nur spekulieren. Möglicherweise wirkt hier unbewußt die Reziprozitätsregel, die Menschen dazu veranlaßt, sich für Geschenke, Gefälligkeiten und so weiter zu revanchieren. Immerhin verdanken die Verfassungsrichter ihre Posten und die damit verbundenen Annehmlichkeiten den führenden Politikern.

Es bleibt somit festzuhalten: Die Kompetenzanmaßungen der EU und der damit einhergehende Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten können jederzeit effektiv gestoppt und rückgängig gemacht werden. Dazu müssen jedoch die Bundesregierung oder das Bundesverfassungsgericht ihre Rechtsauffassungen entsprechend ändern. Das wiederum setzt voraus, daß die Politiker oder Verfassungsrichter davon überzeugt werden können, daß dies für sie subjektiv die beste Entscheidung ist.

Als normaler Bürger hat man dazu jedoch nur begrenzte Mittel, sofern man sich im Rahmen der geltenden Gesetze halten will oder nicht das Glück hat, ein Mitglied der Bundesregierung oder einen Verfassungsrichter zu seinem näheren Bekanntenkreis zu zählen. Eine rein juristische Argumentation dürfte kaum zu einem Sinneswandel führen. Denn ein Gegenargument ist schnell konstruiert. Letztlich bleibt nur die Möglichkeit, den betreffenden Personen mit dem Entzug ihrer öffentlichen Ämter und den damit verbundenen Privilegien zu drohen.

Das dürfte zwar in bezug auf das Bundesverfassungsgericht nicht viel bringen, aber eventuell bei der Bundesregierung. Die ist nämlich trotz allem darauf angewiesen, daß sie im Parlament eine Mehrheit bekommt. Ist diese in Gefahr, weil Abgeordnete ihre Wiederwahl gefährdet sehen, sind auch abrupte Kurswechsel möglich, wie das Beispiel Atomausstieg belegt. Wer die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten stärken und einen weiteren Kompetenzverlust an die EU verhindern will, muß deshalb seinem Bundestagsabgeordneten klarmachen, daß man eine Partei, die nicht in diesem Sinne handelt, nicht mehr wählen wird.

 

Dr. Jochen  Theurer, Jahrgang 1978, ist als Jurist in Stuttgart tätig und betreibt die Schule des Rechts (www.schule-des-rechts.de). Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Artikel 146 GG („Die fehlende Beteiligung des Volkes“, JF 13/09).

Jochen Theurer: Die Ablösung des Grundgesetzes durch Art. 146 GG, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2011, 250 Seiten, gebunden, 78 Euro. Das Buch kreist um die Frage, ob und wie eine neue Verfassung das Grundgesetz ablösen könnte.

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