© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Da gibt es nichts zu leugnen
Streitpunkt zwischen der EU und der Türkei: Der Völkermord an den Armeniern
Hans Meiser

Am 23. Januar 2012 beschloß in Paris der Senat auf Betreiben von Präsident Nicolas Sarkozy ein Gesetz, das die Leugnung des Armenier-Genozids unter Strafe stellt. Die Reaktion in der Türkei war heftig. Premier Erdogan rastete aus, vergaß alle diplomatischen Floskeln und wünschte Sarkozy eine baldige Abwahl an den Hals.

Bevor man sich mit diesen Querelen befaßt, sollte man unbedingt einen Blick in die Geschichte Kleinasiens werfen. Dabei wird deutlich, daß dieses Gebiet spätestens seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. die Heimat der West-Armenier war. Sie siedelten vorwiegend in Ostanatolien und Kilikien, später aber auch in den Metropolen Alexandrien, Smyrna (Izmir) und Konstantinopel. Rafayel Ischchanian zufolge waren sie ein autochthones Volk dieser Region und wahrscheinlich Nachfolger der Hethiter. Dabei stützt er sich auf die russischen Forscher Thomas Gamkrelize und Wjatscheslaw Iwanow, die anhand linguistischer Studien Kleinasien und das iranische Hochland als Urheimat der Indoeuropäer identifiziert hatten (Armenisch gehört zu den indoeuropäischen Sprachen).

Nach dem 4. Jahrhundert n. Chr. nahmen die Armenier das Christentum an. Als aber Anfang des 16. Jahrhunderts die türkischen Osmanen die armenischen Gebiete eroberten, waren Christen in dem moslemischen Staat nur noch Untertanen niedrigeren Ranges. Sie mußten eine zusätzliche Kopfsteuer, seit 1856 eine Militärbefreiungssteuer zahlen. Die innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten Ende des 19. Jahrhunderts führten im osmanischen Vielvölkerreichs zur zunehmenden Drangsalierung der christlichen Minderheiten, Mitglieder neuer nationalistischer Turk-Parteien begannen um 1890, gezielt die armenischen Institutionen zu terrorisieren.

Im Jahr 1891 stellte Sultan Abdul Hamid II. (1842–1918) irreguläre Kavallerieeinheiten auf, die „Hamidiye“, die als Kampftruppe gegen die Armenier eingesetzt werden sollten. Es ist bis heute unklar, ob der Sultan die Massaker von 1894 bis 1896 befohlen hatte, bei denen Zigtausende Armenier ermordet wurden. Laut Forschungen des türkischen Historikers Taner Akçam kann die Opferzahl sogar mit über 80.000 Armeniern beziffert werden.

Im Juli 1908 erzwangen nationalistische „Jungtürken“ im Osmanischen Reich ein konstitutionelles Regime. Unter ihrem massiven Druck wurden 1909 in Kilikien weitere 30.000 Armenier ermordet. Nach der Niederlage in den Balkankriegen errichtete das „jungtürkische Triumvirat“ Talât Bey, Cemal Bey und Enver Bey 1913 ein diktatorisches System, das entschlossen war, künftig die „inneren Feinde“ zu bekämpfen.

Im Ersten Weltkrieg schloß die Türkei sich den Mittelmächten an. Inzwischen hatte die „Partei für Einheit und Fortschritt“ unter dem Einfluß der radikalen Ärzte Mehmed Nazim und Behaeddin Schakir sogar die Ausrottung der Armenier auf dem Territorium des Osmanischen Reiches beschlossen. Ihre Deportationsverordnung vom 27. Mai 1915 ermächtigte die Militärbehörden, nach Belieben Armenier des Verrats zu bezichtigen und ganze Städte und Dörfer kollektiv zu vertreiben. Bereits zuvor hatte die aus kriminellen Häftlingen gebildete paramilitärische Sonderorganisation Çete von Januar bis April 1915 alle armenischen Soldaten umgebracht.

Bis Juli 1915 massakrierte und ermordete die Çete-Soldateska die Armenier in den Dörfern der Ostprovinzen. Nur in Van konnte die armenische Bevölkerung fliehen. In den Städten erließen die Behörden Umsiedlungsbefehle, wie selbst eine Aktennotiz des Auswärtigen Amtes dokumentiert (AA 1915-06-05-DE-001). Hochrangige Armenier hatte man schon vorher verhaftet und hingerichtet. Auf den Sammelplätzen wurden armenische Männer ausgesondert und in der nahen Umgebung umgebracht. Alte, Frauen und Kinder wurden in Kolonnen nach Aleppo getrieben, wobei die meisten unterwegs den Strapazen erlagen. Nur in Smyrna (heute Izmir) standen die Armenier unter dem Schutz des deutschen Generals Liman von Sanders.

Von August 1915 bis Juli 1916 wurden auch die Armenier im übrigen Reich verfolgt und in Zügen nach Aleppo im heutigen Syrien deportiert. Weil aber Tunnel der Bagdad-Bahn noch im Bau waren, mußten diese zu Fuß umgangen werden. Von Aleppo aus wurden sie in syrische Todeslager wie Dair-as-Zur (oder armenisch Der Zor) getrieben. Dieses hat für die Armenier heute etwa den gleichen Klang wie Auschwitz für die Juden. Wer durchhielt, den brachten die Schergen im Juli 1916 um oder jagten ihn ohne Überlebenschance in die Wüste. Andere wurden auf bestialische Weise in Höhlen mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt. Insgesamt fanden so mindestens eine Million Armenier den Tod. Außerdem wurden etwa 100.000 junge Frauen und Kinder verschleppt und gezwungen, mit einer muslimischen Identität zu leben.

Im Oktober 1918 befahl der neue Sultan Mehmed VI. auf Druck der siegreichen Alliierten die Aufklärung der Massaker. Eine Untersuchungskommission fand genug Dokumente, die unwiderlegbar die Vorsätzlichkeit bewiesen. Abdulahad Nuri, ein hoher Deportationsoffizier, erklärte vor Gericht, der ehemalige Innenminister Talât Pascha habe ihm erklärt, die Deportationen verfolgten den Zweck der Vernichtung. Am 22. Februar 1919 bestätigten zwölf Telegramme von 1915 die Aussage Nuris. Angeklagt waren Talât Pascha, der ehemalige Kriegsminister Enver Pascha und der frühere Marineminister Cemal Pascha, die geflohen waren. Sie wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Von den 17 Todesurteilen, die das Militärgericht verhängte, wurden lediglich drei vollstreckt. Als der österreichische Schriftsteller Franz Werfel 1929 die Levante bereiste, regten ihn die erschütternden Schilderungen von Augenzeugen und überlebende Nachkommen zu seinem bekannten Werk „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ an. Dieser historische Roman von 1933 ist eines der wenigen literarischen Zeugnisse des Völkermords an den Armeniern. 

Der evangelische Theologe Johannes Lepsius hatte zuvor in einer Dokumentation die Massaker ausführlich belegt. In einer Ausgabe von 1986 wird allerdings im Vorwort fälschlich behauptet, Deutschland hätte nicht „alles in seiner Macht stehende zur Rettung der Armenier unternommen. Deutschlands Schuld lag vermutlich gerade vor allem in unterlassener Hilfeleistung.“ Obwohl dies nirgendwo belegt wird, glaubte Bischof Wolfgang Huber 2005 bei einer Predigt im Berliner Dom sich für die „politische Gleichgültigkeit“ des Kaiserreichs schämen zu müssen und bat die deutsche Regierung, „sich zur deutschen Mitschuld zu bekennen“.

Am 16. Juni 2005 wurde im Bundestag ein Antrag zum Gedenken an den Armenier-Genozid mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Offiziell bedauerte man im Antrag „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915“ eine „unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Greuel zu stoppen. (...) Das Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches ebenfalls tief in diese Vorgänge involviert.“

Die eigentliche Lepsius-Dokumentation selbst scheint niemand gelesen zu haben. Sie war bereits 1919 unter Verwendung sämtlicher Akten des AA erschienen. Sie bestätigt auch, daß 1915 der deutsche Generaldirektor der Kaiserlich Ottomanischen Bagdad-Bahngesellschaft 850 armenische Angestellte mit ihren Familien vor einer Deportation rettete. Aber diese Geschichte paßt wohl ebensowenig wie die Episode von Liman von Sanders zur Selbstbezichtigungspolitik hiesiger Eliten.

 

Dr. Hans Meiser ist pensionierter Historiker, bis 1997 am Kolleg Mettingen tätig. Zum Thema ist von ihm erschienen: „Völkermorde vom Altertum bis zur Gegenwart“, Tübingen 2009

 

Kleine bibliografische Auswahl

Johannes Lepsius (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914 bis 1918 – Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Lepsius-Archiv Halle

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Wien 1933, zuletzt Frankfurt am Main 2011

Taner Akçam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Hamburg 1999

Tessa Hofmann: Das Verbrechen des Schweigens, Göttingen 2000

Wolfgang Gust (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen A.A., Springe 2005

Taner Akçam: A Shameful Act. The Armenian Genocide. New York 2006

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