© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Im System der permanenten Furcht
Der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski hat ein bemerkenswertes Buch über den sowjetischen Diktator Josef Stalin und sein Terrorsystem mit vielen Millionen Opfern vorgelegt
Dag Krienen

Ich habe immer außerordentliches Glück gehabt, besonders in den schwierigen Zeiten meines Lebens. Ich hatte Glück, weil mein Vater nicht verhaftet wurde; weil die Lehrer in meiner Schule gut waren; weil ich nicht in den Krieg gegen Finnland ziehen mußte; weil ich nie von einer Kugel getroffen wurde; weil ich das schwerste Jahr meiner Gefangenschaft in Estland verbrachte; weil ich bei der Arbeit in den deutschen Bergwerken nicht starb; weil ich nicht wegen Desertion erschossen wurde, als die Sowjetbehörden mich verhafteten; weil ich bei den Verhören nicht gefoltert wurde; weil ich auf der Fahrt ins Arbeitslager nicht starb, obwohl ich bei 1,80 Meter Körpergröße nur 48 Kilo wog; weil ich in ein sowjetisches Arbeitslager kam, als die Greuel des Gulag sich bereits abschwächten. Meine Erfahrungen haben mich nicht verbittert, und ich habe gelernt, das Leben so zu akzeptieren, wie es wirklich ist.“

Am Ende seines neuen Buches über das stalinistische Herrschaftssystem zitiert der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrende Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski aus den Erinnerungen eines Mannes, „der die Terrorexzesse des Stalinismus zufällig überlebte, während Millionen anderer Menschen starben“. Der betreffende „Sowjetbürger“ konnte das, was „uns wie eine Aneinanderreihung von Unglücksfällen erscheint“, aus der Rückschau nicht anders als eine Häufung von Glücksfällen auffassen. „Das Leben so zu akzeptieren, wie es wirklich ist“, hieß in der Sowjetunion Stalins, alle Schrecken seines Terrorsystems als „normal“ hinzunehmen und zu versuchen, sie „mit Glück“ zu überleben.

Es ist nicht das geringste Verdienst des Buches, daß es über die grausame Natur des Systems und seine Folgen ausführlich unterrichtet. Sein Titel „Verbrannte Erde“ ist jenem Vernichtungsverfahren entlehnt, daß die Rote Armee bei ihren Rückzügen 1941 und 1942 anwandte. Doch schon lange vorher schuf Stalins Terrorherrschaft in der Gesellschaft des Sowjetimperiums „verbrannte Erde“. Denn ihre maßlose und unberechenbare Gewaltsamkeit führte zur Auflösung aller verläßlichen, Sicherheit schaffenden Beziehungen zwischen den Menschen sowie aller rechtlichen, staatlichen und politischen Institutionen, die im Normalfall das Zusammenleben in friedlichen, zivilisierten Bahnen garantieren.

In Stalins Sowjetunion lebte hingegen jeder jederzeit in Mißtrauen und Furcht vor jedermann – und vor allem in beständiger Furcht vor den Launen des Machthabers im Kreml. Baberowski bemüht sich erfolgreich darum, seinen westlichen Lesern – die in der Regel in der Sphäre eines rechtsstaatlich und gesellschaftlich abgesicherten, zwischenmenschlichen „Urvertrauens“ aufgewachsen sind – zu verdeutlichen, was passiert, wenn diese Voraussetzungen systematisch zerstört werden. Schon von daher ist auch dem „stalinismuskundigen“ Leser die Lektüre des gut geschriebenen Buches zu empfehlen.

Was sein Autor dabei im einzelnen zur Ausgestaltung der Terrorregimes des Diktators und zu seiner Entwicklung zu einer Hölle auf Erden innerhalb und außerhalb der Lager und Todeszonen schreibt, ist von der Sache her vielfach nicht neu. Alexander Solschenizyn und Robert Conquest haben vieles schon gesagt. Die teilweise Öffnung der russischen Archive nach 1990 hat es erlaubt, manches zu ergänzen und wissenschaftlich zu präzisieren. Erinnert sei an das „Schwarzbuch des Kommunismus“ (1997), die Studie Karl Schlögels über Moskau 1937 (JF 42/08), die Bände von Binner, Junge und Bonwetsch zum Massenterror von 1937/38 (JF 51/11) und Jörg Baberowskis frühere Studie zum „Roten Terror“ von 2003.

In der „Verbrannten Erde“ setzt der Autor nun allerdings zu einer neuen Erklärung an, wie eine solche Monstrosität überhaupt zu einer geschichtsmächtigen Realität werden konnte. Im „Roten Terror“ hatte Baberowski, im Banne der Thesen des Soziologen Zygmunt Baumann, 2003 die stalinistische Gewaltherrschaft noch als unmittelbare Folge eines fehlgeleiteten kommunistischen „Modernisierungsversuches“ interpretiert. Sie sei aus dem Verlangen entstanden, in einer noch weitgehend vormodernen Gesellschaft Modernität und „Eindeutigkeit herzustellen und Ambivalenz zu überwinden“, und das sofort und ohne Rücksicht auf Verluste.

In seinem neuen Buch distanziert er sich von diesem Ansatz und orientiert sich an Wolfgang Sofsky. Nun heißt es: Die stalinistische Gewalt „brachte sich nicht aus Ideen, sondern aus Situationen und ihren Gelegenheiten“ hervor, es kam nicht auf die ideologischen Motive, „sondern auf die Ermöglichungsräume an, in denen sich Gewalt entfaltete“. Der Terror des stalinistischen Systems sei nicht mehr durch eine Ideologie motiviert worden, sondern diese habe am Ende, wenn überhaupt, nur noch der nachträglichen Rationalisierung der selbstläufigen Gewaltexzesse des Regimes gedient.

Die Gewalt und weniger die Ideologie entfaltete ihre eigene Logik und Dynamik. Die monströsen Vernichtungsexzesse des Regimes mochten teilweise auch Stalins Paranoia geschuldet sein. Aber in seinem Terrorstaat, in dem jeder seinen faktischen Sklavenstatus öffentlich permanent zu einer unvergleichlichen sozialen Errungenschaft umlügen mußte, herrschte notwendig auch der permanente Verdacht gegenüber jedem. Sicher war Stalins Macht nur, wenn jeder in seinem Reich in beständiger Furcht vor seinen unvorhersehbaren Launen lebte. Auch jenseits des „Großen Terrors“ mußte maßlose Furcht in Permanenz herrschen.

Baberowskis Buch hat schon jetzt eine ungewohnt breite Rezeptionen in den Medien gefunden. Viele Rezensenten heben dabei gerne die Revision seines Erklärungsansatzes hervor und interpretieren diese als radikale Kehrtwende. Man darf vermuten, daß manche durchaus begrüßen, daß der Autor – auch in mehreren Interviews – nunmehr die These vertritt, daß Kommunismus nicht zwangsläufig zu einem stalinistischen Herrschaftssystem führe. Bei näherem Hinsehen allerdings verwirft Baberowski – der bereits 2003 einen Stalinismus ohne die spezielle Person Stalins für unmöglich erklärt hatte – keineswegs sein älteres Werk in toto. Nur die Motive Stalins erfahren eine Neubewertung. Der frustrierte Ideologe, der seine kommunistischen „Modernisierungs“-Ziele mit äußerster Gewalt durchsetzen will, tritt in den Hintergrund. Der von vormodernen, mafiösen Verhaltensmustern geprägte, gewissenlose Psychopath Stalin, der zur Absicherung seiner Macht ein riesiges Vielvölker-Imperium seiner exzessiven Gewaltanwendung unterwirft, beherrscht nun die Bühne.

Nicht geändert aber haben sich für Baberowski die Bedingungen, unter denen ihm dies gelingen konnte. Weiterhin ist es die Machtergreifung einer winzig kleinen Gruppe von „bolschewistischen Modernisierern“ in einem hoffnungslos rückständigen Land, die zu einer prekären Situation führte. Denn die neue „Staatsmacht“ war und blieb „schwach“; schwach in dem Sinne, daß sie nicht auf breite Anerkennung oder auch nur Verständnis der Beherrschten dafür hoffen konnte, was sie überhaupt wollte. In den Weiten des Landes konnte sich der bolschewistische Staat nie anders Gehör verschaffen als durch die immer wieder erfolgende, keiner Regel gehorchenden Anwendung außerordentlicher physischer Gewalt. Daß die neuen Machthaber weiterhin auf Gewaltanwendung im großen Stil angewiesen blieben, um ihre Stellung zu behaupten und dem „Sozialismus“ überhaupt eine Chance zu geben – genau dies schuf jene von Baberowski ausführlich beschriebenen „Ermöglichungsräume“, die Stalin den Aufstieg zur Alleinherrschaft ebneten und ihm die Entfaltung seines Herrschaftssystems schrankenloser Gewaltsamkeit erlaubten.

Die kommunistische Ideologie ist in den Augen Baberowskis, formallogisch ausgedrückt, keine hinreichende Bedingung für die Entstehung des Stalinismus gewesen. Sie war aber seine notwendige Vorbedingung. Erst der Versuch einer rücksichtslosen „Modernisierung“ in einem rückständigen Land durch eine kleine Clique von Kommunisten schuf die Voraussetzungen für die Etablierung der Gewaltdespotie eines gewissenlosen psychopathischen „Mafiosos“– nicht nur in Rußland.

Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. Verlag C. H. Beck, München 2012, gebunden, 606 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

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