© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

„Mir geht nichts über mich“
Eine Dissertation des Franzosen Henri Arvon über den Philosophen Max Stirner und seinen atheistischen Existentialismus liegt vielen Jahren auf deutsch vor
Werner Olles

Die konstruktive Auseinandersetzung mit Max Stirner und dem von ihm begründeten „atheistischen Existentialismus“ steckt hierzulande noch in den Anfängen. Zwar gibt es eine Max-Stirner-Gesellschaft, die als Nachfolger der 2006 eingestellten Zeitschrift Der Einzige seit 2008 das gleichnamige Jahrbuch herausgibt, und in Leipzig existiert als Anlaufstelle für Stirnerianer das Max Stirner-Archiv, doch aus dem kulturellen Bewußtsein ist der am 25. Oktober 1806 in Bayreuth geborene und am 25. Juni 1856 in Berlin verstorbene Philosoph und Journalist längst verschwunden.

Stirner war philosophiehistorisch Links- bzw. Junghegelianer und seine Lehre des Solipsismus – eine erkenntnistheoretische Anschauung, nach der nur das eigene Ich reale Existenz hat und die übrige Welt nur in seiner Vorstellung vorhanden ist – behagte weder der politischen Linken noch der Rechten. Beide Strömungen warfen Stirner vor, daß der ethische Solipsismus grundsätzlich Selbstsucht besagte, was der Geschmähte auch gar nicht abstritt. Für den Marxismus war und ist dies eine bizarre Ideologie, die nur im Randgruppenmilieu einer intellektuellen Boheme gedeihen konnte. Dennoch hat man ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer – mit letzterem und Friedrich Engels verkehrte er ab 1841 in dem Berliner Debattierzirkel „Die Freien“, einer lockeren Runde liberaler und sozialistischer Journalisten und Intellektuellen – in die Vorgeschichte des marxschen Denkens eingeordnet.

Der intellektuellen Rechten war Stirners Individualanarchismus mit seinem ungeheuren Illusionspotential und seiner abstrakten Individualität, die in dem vielzitierten Satz „Mir geht nichts über mich“ gipfelte, ohnehin suspekt. So hat sich Carl Schmitt in seiner Studentenzeit wohl intensiv mit Stirner beschäftigt und soll auch später noch einige Male von ihm „heimgesucht“ worden sein, doch viel mehr ist darüber nicht bekannt. Nur die hedonistische 68er-Linke inszenierte ihn auf einer intellektuell allerdings höchst beschränkten Ebene. Da es der Linken dabei jedoch allein um die Entdeckung der Lebensästhetik ging, verwässerte und banalisierte sie die gesellschaftskritische Realität Stirners gleichsam zur bloßen Attrappe und Reinform abstrakter Individualität.

Ganz anders Henri Arvon, der 1914 als Karl-Heinz Aptekman in Bayreuth geboren wurde und hier das ehemalige Humanistische Gymnasium besuchte, an dem einhundert Jahre zuvor auch Max Stirner, der eigentlich Johann Caspar Schmidt hieß, das Absolutorium erhalten hat. Arvon, der später an einer dem französischen Verteidigungsministerium unterstellten Schule in La Flèche unterrichtete, beendete 1951 das Manuskript seiner Dissertation über Stirner, die 1954 im Druck erschien. Über ein halbes Jahrhundert später liegt nun endlich die von Gerhard H. Müller ins Deutsche übersetzte Fassung vor: „Max Stirner – An den Quellen des Existentialismus“.

Arvon weist nicht nur Stirners Intentionen im nachhegelianischen Diskurs nach, sondern hebt auch dessen bedeutende und vor allem von Marx und Engels geleugnete Rolle bei der Entstehung des historischen Materialismus hervor. Ein wichtiges Kapitel gilt dabei den zahlreichen Mißverständnissen, die Stirners „Egoismus“, der besser mit dem Begriff „Eigenheit“ umschrieben ist, auslöste. Wie Kierkegaards Philosophie die Quelle des christlichen Atheismus sei, sieht der Autor Stirners Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ als Quelle des atheistischen Existentialismus und stößt damit eine Diskussion an, die vehement die Behauptung bestreitet, dieser müsse als Gründer und theoretischer Vordenker des Anarchismus verstanden werden.

Armin Geus (Hrsg.): Henri Arvon. Max Stirner – An den Quellen des Existentialismus. Basilisken-Presse, Rangsdorf 2012, broschiert, 236 Seiten, 36 Euro

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