© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Der Überstrapazierte
Gauck: Der neue Bundespräsident kann Zeichen setzen, aber keine Wunder wirken
Thorsten Hinz

Die Erwartungen an den neuen Bundespräsidenten sind überirdisch: Den Bürgern soll Joachim Gauck den Glauben an den Staat zurückgeben und den Politikern den Glauben an sich selbst. Er soll die Kluft zwischen Wählern und Gewählten verringern. Und die verbliebenen Rechten und Konservativen, die Deutschland auf einer abschüssigen Bahn sehen, erhoffen sich, daß Gauck den Staatsschlitten bei rasender Fahrt von der tödlichen Piste bugsiert.

Gerade diejenigen, die mit seiner Präsidentschaft die Hoffnung auf entscheidende Korrekturen verknüpfen, müssen in Rechnung stellen, daß ihnen heftige Enttäuschungen bevorstehen. Zwar ist Gauck als relativer Außenseiter und kraft seiner Persönlichkeit ins Amt gekommen, doch indem er es übernommen hat, ist er zum konstitutiven Teil des politischen Systems geworden, dessen Regeln feststehen. Übertreten darf er sie nur in absoluten Ausnahmefällen. Das gilt um so mehr, wenn er sie lockern oder abändern will.

Will er das überhaupt? Falls ja, dann darf er seine Absichten nicht aussprechen. Seine Fernsehinterviews nach der Wahl hinterließen einen guten Eindruck zumindest bei denen, die in der Lage sind, Zwischentöne wahrzunehmen und auch das Ungesagte als eine Botschaft zu vernehmen. Die als Journalisten agierenden Gesinnungspolizisten arbeiteten ihre Liste ab: Holocaust, Islam, NPD. Gauck vermied die üblichen Politikerfloskeln. Man spürte, daß er aus größeren Erfahrungs- und Reflexionsräumen schöpft als die durchschnittlichen Politiker. Das verleiht ihm größere rhetorische Möglichkeiten und Freiheiten. Der Gender-, Quoten- und Multikulti-Firlefanz, der in der „bunten Republik“ seines Amtvorgängers eine neue Stufe des politischen Nonsens erklommen hat, bleibt ihm zutiefst fremd. Vergleichbares hat er in der DDR kommen und gehen sehen: Die gängigen Phrasen von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ waren ebenfalls nichts weiter als eine Spanische Wand, die eine Zeitlang den Blick in den Abgrund versperrte, doch den Sturz nicht verhinderte.

In der DDR hat Gauck Charakterzüge ausgebildet, die jetzt im besten Sinne konservativ wirken. Der gestandene Mann und Vater von vier Kindern wird sich schwerlich davon überzeugen lassen, daß die Geschlechterrollen bloß kulturelle Konstrukte sind und daß zwei Frauen, die Tisch und Bett miteinander teilen, wegen eines im Tiefkühlfach deponierten Spermaröhrchens unter den vom Grundgesetz gemeinten Familienbegriff fallen. Im allgemeinen Wettkriechen der BRD-Intellektuellen vor dem Islam kann er eine ähnliche Unterwerfungshaltung erkennen, die man den DDR-Intellektuellen bis heute vorwirft.

Diese Parallelen, die Gauck ja instinktiv erfaßt, müssen von ihm künftig mit größerer analytischer und historischer Tiefenschärfe versehen werden. Dagegen reicht es nicht mehr aus, die Wiedervereinigung mit dem Eintritt in das Reich der Freiheit zu identifizieren, das von den Menschen nur als solches erkannt und angenommen werden muß. Das schmeichelt zwar den Zuhörern – im Westen mehr als im Osten –, gerinnt aber zur politischen Romantik und Wirklichkeitsflucht. Der pastorale Gestus, mit dem Gauck auf seinen Vortragsreisen die unmittelbaren Zuhörer in den Bann geschlagen hat, wird sich durch die mediale Vervielfältigung sowohl formal wie inhaltlich rasch verschleißen. Auch Demokratielehrer können und müssen dazulernen!

Nehmen wir seine Einstandsrede vor der Bundesversammlung. Joachim Gauck hat noch einmal an die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 erinnert und dem Publikum sein euphorisches Glück von damals vergegenwärtigt. Das wirkte bei der Gelegenheit erstmals konventionell und sentimental. Gauck hätte einen größeren historischen Bogen schlagen, den 18. März 1848 als Tag der bürgerliche Revolution erwähnen und erklären müssen, daß sich im Sturz des SED-Regimes ein altehrwürdiger deutscher Traditionsstrang bewahrheitete. Damit hätte er en passant einen ersten geschichtspolitischen Pflock eingeschlagen.

Außerdem gehört es zur historischen Ehrlichkeit festzustellen, daß der Wahlkampf und das Wahlergebnis von 1990 weniger von politischen Überlegungen als von materiellen Erwartungen bestimmt wurden. Das war nicht ehrenrührig, und gewiß hat das Wahlergebnis nur beschleunigt, was ohnehin kommen mußte: die deutsche Einheit. Doch andererseits haben die Wähler, die erst im November 1989 die politische Macht in ihre Hände genommen hatten, sie gleich wieder an Helmut Kohl weitergereicht, der es für sie richten sollte. Dieser Tausch von politischer Freiheit gegen soziale Sicherheit erklärt sich aus einer bestimmten DDR-Mentalität, doch er durchzieht genauso die Realität und Mentalität der Bundesrepublik.

Damit kommen wir zu einer politischen Kernfrage, der Gauck nun nicht länger ausweichen kann: Hängt diese Ähnlichkeit etwa damit zusammen, daß die politischen Bedingungen, unter die die deutschen Nachkriegsstaaten gestellt waren und sind, sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden? Akut wird die Frage, wenn dem Bundespräsidenten das milliardenteure Gesetz zum Europäischen Stabilitätsmechanismus vorgelegt wird, zu dem das Volk nie befragt wurde. Mit welcher Begründung wird er den Schlitten rasen lassen? Seine Präsidentschaft wird spannend.

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