© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Identität gibt es nicht im Plural
Lokalpatriotismus: Der Kinofilm „6 x Venedig“ erzählt sechs Lebensgeschichten
Sebastian Hennig

In „Gente di Roma“ schilderte Ettore Scola die ewige Stadt als einen Schmortopf kauziger Individualisten. Weil der Sozialromantiker dabei nicht immer fand, was er suchte, berichtigte er die Wirklichkeit mit Spiel-szenen. Das Ergebnis war ein Reality-Cinema für Intellektuelle. Rom ist heute die Hauptstadt einer jungen Republik, klassisch dekorierte Bühne für laute Selbstdarsteller. Die ältere Republik auf italienischem Boden war die Serenissima Repubblica di San Marco.

Auch Venedig wirkt heute auf den ersten Blick als eine unwirkliche Operetten-Kulisse. Aber Carlo Mazzacurati belehrt in seinem jüngsten Film darüber, daß gerade hier, sozusagen im Windschatten der Fotomotive, eine Verbindung der Menschen mit dem Geist ihres Lebensortes, ihrer Sprache nie völlig abgerissen ist: „Im Unterschied zu anderen Städten existiert in Venedig ein Volk (…) Alles ist sehr lebendig in dieser Stadt, die so offensichtlich im Sterben begriffen ist, wie jenes Volk, das in Städten wie Padua und Treviso verschwunden ist: Dort findest du kein Kind mehr, das als erste Sprache den Dialekt seiner Stadt spricht …“

Der Film erzählt in abgeschlossenen Episoden die Geschichte von sechs Einwohnern der Lagunenstadt. Er wirkt dennoch als Einheit, weil sich die Erzählungen unwillkürlich miteinander verflechten, ohne miteinander vermischt zu werden. Mal zurückhaltend, mal mit leidenschaftlicher Offenheit vorgetragen, ist ein ungebrochener Lokalpatriotismus der rote Faden dieses sechsstimmigen Lobgesangs auf Herkunft und Beharren.

Er beginnt mit dem Freizeit-Kustoden am Staatsarchiv, das die Habsburger im säkularisierten Frari-Kloster zu Beginn des 19. Jahrhunderts einrichteten. Die liebevolle Würde, mit der er die alten Pläne auseinanderfaltet, steht im Gegensatz zur trockenen Sachlichkeit des besoldeten Staatsdieners. Die Sorgfalt des Ruheständlers erstreckt sich auch auf das Verhalten seiner Mitstreiterin im Ehrenamt. Die Kamera verbirgt nicht, wie er deren nervöse Fingerspiele mit gebieterischer Geste unterbindet. Es geht also um Haltung. Der Herr sucht und findet an diesem Ort die Würde einer überpersönlichen Bestimmung. Sein Wohnort, das industrialisierte Mestre auf dem Festland, ist ein verhetzter Flecken geworden. Die morgendliche Busfahrt über den Damm zur Piazzale Roma ist für ihn eine Schleuse, die von der modernen Vorhölle in ein stabiles Empyrion des Geistes führt. Im Morgennebel schreitet er über die moderne gläserne Brücke in eine fragile Wirklichkeit, einer Vision entgegen, die ihm täglich Kraft verleiht.

Das Stubenmädchen in zweiter Generation, mit Schultern und Armen wie die Weiber auf den Bildern von Tintoretto, richtet derweil im Hotel Daniele emsig den steifen und antiquierten Luxus für andere her, die ihn oftmals nicht zu schätzen und zu genießen wissen. Als stille Zeugin des Unrats der Schönen und Reichen schleicht sie durch die Zimmer. Den eigenen Urlaub verbringt sie dann in billigen Hotels.

Der Archäologe Ernesto Canal erkundet seit Jahrzehnten auf eigene Faust die Geheimnisse auf dem Boden der Lagune. Taucher und abenteuerlustige Schüler unterstützen ihn dabei. Schmerzlich für ihn ist, zusehen zu müssen, wie Beamte des Denkmalschutzes leichtfertig die Säulen einer paleo-venezianischen Villa dem Vandalismus überantworten. Nur zweimal in seinem Leben ist er gereist. Einmal nach Konstantinopel, der Ziehmutter Venedigs, und dann nach Ephesos. Während die anderen dort das Amphitheater bestaunten, prüfte der Rastlose an den Steinen das Maß des byzantinischen Fuß nach.

Ein Einbrecher im Ruhestand aus Castello erzählt seine Abwärts-Karierre. Als Halbwaise landet er bei den Nonnen, später auf der Marineschule. Im Bogen der Basilika findet er eine Clique, die Brüche macht und mit waghalsigen Sprüngen über die Dächer flüchtet. Vom ergaunerten Geld wird Urlaub in Kenia gemacht. Als sie schließlich im Juwelierladen auffliegen, werden die Freunde gedeckt, bei denen es darauf ankam, weil die schwangere Frau zu Hause wartete und das Kerbholz übervoll war.

Nicht weniger asozial ist der Künstler per Eigendefinition. Seine Bilder sind abstrakte Tapete, changierend zwischen dekorativer Gefälligkeit und tachistischer Moderne. Er selbst wirkt sentimental und verschlagen, ständig auf der Suche nach Anerkennung. Seine Tiraden vor der Kamera provozieren den Kommentar eines Einheimischen von Burano. Der verkündet ironisch über den selbsternannten Paria: „Hier haben sie den einzigen Menschen, der sich auskennt, perfekt ist. Und für Geld interessiert er sich gar nicht.“ Ecce artisti: Eine Dornenkrone aus Buntpapier für den Hobby-van-Gogh.

Der Junge von Sacca Fisola, der schmucklosen Erweiterung der Giudecca, singt und spricht Venezianisch mit natürlichem Stolz. Er redet offenherzig vom Mädchen mit den kurzen Röcken, dem optimistischen Vater, der ein riesiges Fernsehgerät kauft, und der arbeitsamen Mutter, die sich eher pessimistischen Stimmungen ergibt. Er will Reggae-Musiker werden, liebt seine Mutter abgöttisch und verehrt die Eltern. In deren Bar hilft er zuweilen aus. Zwar sind seine Hände zu klein, um drei Teller auf einmal zu tragen, dafür weiß er aber den kleinen Tricks zahlungsunwilliger Gäste beizukommen. Die Kamera begleitet ihn zum Karate-Unterricht. Er überblickt klug die Grenzen solcher Unterweisung: „Mit den Asiaten ist es wie mit den Jamaikanern, die zeigen einem nicht, wie man es macht, wenn man nicht einer von ihnen ist.“

Der Junge ahnt es dunkel: Identität gibt es nicht im Plural und Authentizität ist nicht auswechselbar. Man kann sie nur selbstunbewußt leben oder an anderen wahrhaben. Der Film nimmt das sehr genau. Wandert an manchen Orten die Globalisierung wie ein Gespenst durch die Bestände, ohne sie zu erschüttern, ja nur zu berühren?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen