© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Romantische Projektionen
Der Mythos vom „Edlen Wilden“: Der Sachbuchautor Thomas Jeier bestätigt anthropologische Untersuchungen über die nordamerikanischen Indianervölker
Wolfgang Kaufmann

Klischees über die nordamerikanischen Indianer, die man in den heutigen USA und Kanada politisch korrekt „Native Americans“ oder „First Nations“ nennt, existieren nicht erst seit den Zeiten Karl Mays zuhauf. Allerdings sind die meisten dieser eingefahrenen Vorstellungen falsch, wie ein höchst aufschlußreiches Buch über die Geschichte und auch Gegenwart des „Roten Mannes“ zeigt.

Das beginnt schon bei der Zahl der heutigen Indianer. Zwar suggeriert die Existenz von 562 offiziell registrierten Stämmen, welche in zum Teil fast bundesstaatgroßen Reservaten leben, daß es sich hier um eine hochbedeutsame ethnische Gruppierung handelt – tatsächlich aber gibt es nur 1,8 Millionen anerkannte „Native Americans“, wobei die förmliche Aufnahme in einen Stamm bereits erfolgt, wenn der Betreffende wenigstens einen indianischen Großelternteil vorweisen kann. Und die Anzahl derer mit zwei indianischen Eltern liegt sogar bei unter 200.000!

Darüber hinaus wurde und wird ein völlig falsches Bild von der Mentalität der „Edlen Wilden“ gezeichnet. Beispielsweise gelten sie vielen unbedarften Bewunderern als „Pioniere unter den Umweltschützern“ (so der frühere US-Innenminister Stewart Udall). Als Beleg hierfür werden gern die angeblichen Mahnungen des Duwamish-Häuptlings Seattle gegenüber Präsident Franklin Pierce herangezogen: „Die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers gehören uns nicht. Jeder Teil dieser Erde ist uns heilig.“ Und auch die von Autoaufklebern in der Ökobewegung bekannte „Weissagung der Cree“ ist nicht indianischen Ursprungs, sondern soll auf einen Gesinnungstext des US-Filmregisseurs Ted Perry von 1972 zurückgehen.

Es dominierte vielfach der Raubbau an der Natur

Pech nur, daß sich in den Archiven kein solcher Brief aus dem Jahre 1855 findet, weshalb zu vermuten ist, daß es sich hier um das Elaborat eines modernen Umweltaktivisten handelt. Außerdem haben die Indianer die Ökosysteme, in denen sie lebten, deutlich mehr strapaziert, als mancher wahrhaben will: Statt „nachhaltiger Bewirtschaftung“ von Flora und Fauna dominierte vielfach der Raubbau an der Natur. Brandgerodete Wälder, um kurzfristig Landwirtschaft zu betreiben, dann von den ausgemergelten Böden weiterzuziehen und diesen Kreislauf des extensiven Landbaus fortzusetzen, gehörten zur Regel. Auch wenn sich das Bild durch unzählige Western festgesetzt hat, daß erst „der Weiße Mann“ massenhaft Bisons in den Grasebenen der Prärie getötet hat, heißt das eben noch lange nicht, daß Indianer eine naturnahe Bestandsregulierung umsetzten. Durch den sogenannten „Büffelsprung“, in dem sie die Tiere über eine Felsklippe jagten, starben mehr Büffel, als die Stämme verzehren konnten.

Diese hemmungslose Dezimierung der Wildbestände dauert teilweise bis in heutige Tage an, wofür die Sonderrechte der „Native Americans“ verantwortlich sind. Dazu der amerikanische Journalist Ted Williams: „Während der letzten 25 Jahre haben Schoschonen und Arapahos, ausgerüstet mit Schneemobilen, Quads und automatischen Gewehren, den Bestand an Rotwild, Elchen und Bighorn-Schafen im Wind River Reservat fast vollkommen ausgerottet. Wiederholte Anträge auf eine bescheidene Selbstregulierung wurden von der Stammesregierung abgelehnt.“ Der Anthropologe Raymond Hames von der University of Nebraska hatte in seiner Untersuchung 2011 über das Verhältnis der „Native Americans“ zur Natur im Annual Review of Anthropology ein klares Fazit gezogen: „Den edlen, mit der Umwelt in Harmonie lebenden Wilden hat es nie gegeben.“

Doch nicht nur der Umwelt wurde übel mitgespielt, sondern auch den Nachbarn. Verantwortlich hierfür war der krasse Ethnozentrismus einiger Stämme wie etwa der Sioux. Diese betrachteten die anderen Indianervölker als minderwertig und setzten alles daran, ihre „Roten Brüder“ zu vernichten oder zumindest zu versklaven.

Elend in den Reservaten wie in der Dritten Welt

Die Folge hiervon waren permanente und äußerst blutige Kriege, die den nordamerikanischen Kontinent schon lange vor dem Eintreffen der ersten Europäer erschütterten. Deshalb kann man ohne jede Einschränkung sagen, daß Krieg stets ein integraler Bestandteil der indianischen Kultur war. Dabei machte die von den „unverdorbenen Naturmenschen“ ausgehende Gewalt nicht einmal vor Stammesgenossen halt. Es ist nämlich alles andere als Zufall, sondern höchst symptomatisch, daß charismatische Führerpersönlichkeiten wie Crazy Horse und Sitting Bull (die Sieger in der legendären Schlacht am Little Bighorn) von Angehörigen ihres eigenen Volkes getötet wurden.

Jeier räumt freilich nicht nur mit Stereotypen über die Indianer auf, sondern kritisiert auch den Umgang mit denselben. Man nehme hier nur seine eindrucksvollen Schilderungen der zahlreichen Massaker, welche bis zum Jahre 1900 andauerten und derart brutaler Natur waren, daß die USA heute wohl sofort Flugzeugträger und Bomber losschicken würden, wenn sich derlei in einem anderen Staat der Welt ereignen sollte. Ähnlich bedrückend ist die Situation in den Reservaten, die Jeier aus vielfachem eigenen Augenschein kennt. Wo beispielsweise liegt der Unterschied zwischen einem Elendsviertel in der Dritten Welt und dem Reservat Pine Ridge in South Dakota? Eine schwer zu beantwortende Frage, wenn man die ernüchternden Fakten über das Reservat des Lakota-Stammes kennt: Die Arbeitslosenquote beträgt um die achtzig Prozent, die Kindersterblichkeit ist fünfmal höher als in den übrigen USA, und die durchschnittliche Lebenserwartung der oft unter der US-Armutsgrenze lebenden Lakota liegt bei knapp 50 Jahren, was nicht nur am verbreiteten Alkoholismus, sondern auch an der miserablen Gesundheitsversorgung liegt.

Allerdings ist für diese Mißstände nicht nur der amerikanische Staat verantwortlich, denn es fließen schließlich öffentliche Hilfsgelder. Bloß landen die eben oft in den Taschen korrupter Stammesführer. Letztere sind auch die Hauptprofiteure des Indian Gaming Regulatory Act der Reagan-Regierung. Dieses Gesetz räumt den Indianern das Recht ein, hochprofitable Spielcasinos in ihren Reservaten zu betreiben. Das spült pro Jahr etwa 19 Milliarden Dollar in die Kassen, vor allem in Kalifornien. Deshalb haben die wohlhabenderen Stämme nun ihre Aufnahmebedingungen verschärft, um den Kreis der Nutznießer möglichst klein zu halten.

Foto: Charles Marion Russell „The Custer Fight“, Lithographie von 1903: „Den edlen, mit der Umwelt in Harmonie lebenden Wilden hat es nie gegeben“

Thomas Jeier: Die ersten Amerikaner. Eine Geschichte der Indianer. DVA, München 2011, gebunden, 347 Seiten, Abbildungen, 22,99 Euro „Weissagung der Cree“: Durfte an keinem Auto Ökobewegter fehlen

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