© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Messer, Schere, Licht
Der Scherenschnitt hat seit der Goethezeit hierzulande treue Freunde
Joachim Feyerabend

Sparzwänge in der Kulturszene können ungeahnte Kreativitätsreserven freisetzen. So geschehen Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich, als sich der Finanzminister König Ludwigs XV., Étienne de Silhouette, seine Sparpolitik auch privat verordnete, sein Schlößchen in Brie-sur-Marne statt teurer Miniaturen aus Elfenbein mit Schattenrissen schmückte und diesen seinen Namen gab. Den Weimarer Dichter, Geheimrat und Minister Johann Wolfgang von Goethe begeisterte die Porträtsilhouette so, daß er sich gleich mehrere zulegte. Da war die Kunstform schon populär: Auf den Jahrmärkten tauchten flinke Scherenschneider auf, die buchstäblich im Handumdrehen und freihändig aus schwarzem Papier ein Porträt ihrer Kunden schnitten.

Der Scherenschnitt hat bis heute treue Freunde in Deutschland: Ende August 1995 gründete sich der Deutsche Scherenschnittverein e. V. mit Sitz in Stuttgart. Genau sieben Gründungsmitglieder zählte man damals, gerade einmal so viele wie zur Vereinsgründung nötig sind. Zum Ziel setzten sie sich „die Förderung des Scherenschnitts als eigenständige Kunstrichtung“, wie es auf der Internetseite heißt. Rasch fanden sich Mitstreiter – bis 1998 wuchs der Verein auf 291 Mitglieder.

Der damalige Vorsitzende Claus Weber regte beispielsweise einen Wettbewerb für ein Vereinssymbol an, den Helmuth Bögel gewann. Seitdem ziert die „Scherenhexe“ das Logo. Zahlreiche Gemeinschaftsausstellungen der Scherenschnittkünstler folgten. Sogar eine eigene Zeitung – das Vereinsheft Schwarz auf Weiß – erscheint halbjährlich. „Es geht darum, die Scherenschnitt-Tradition zu wahren“, sagt Christa Weber, die seit 2000 die Vereinszeitung redaktionell betreut. Deshalb gehe man in die Schulen und gebe das Kunsthandwerk an junge Leute weiter.

Der Papierschnitt stammt von den Erfindern des Papiers selbst: den Chinesen, die schon im 2. Jahrhundert vor Christus Papier aus Pflanzenfasern und Lumpen produziert haben.

Schnitte aus Zuckerrohr, Reisstroh und Pferdehaut

Es diente nicht nur der Verbreitung der Schrift oder dem Gelddruck, sondern ließ sich auch mit Messern und Scheren zuschneiden. Vor allem stellten die Chinesen Schablonen her, um ihr weltweit begehrtes Porzellan zu bemalen. Allerdings streiten sich die Gelehrten noch immer darüber, ob nicht vielleicht doch die alten Ägypter, das frühe Indien oder Japan als Ursprungsland dieses Kunsthandwerks in Frage kommen. Mit dem Scherenschnitt nahm auch das Schattenspieltheater seinen Anfang.

Heute wird im Scherenschnittverein bereits darüber diskutiert, den Begriff durch das Wort „Schnittkunst“ zu ersetzen. Denn es wird nicht nur mit der Schere, sondern auch mit dem Skalpell und Messer gearbeitet. Die künstlerischen Resultate kann man im Deutschen Scherenschnittmuseum in Vreden bestaunen: Mehr als 14.000 Exponate aus aller Herren Länder warten auf die Besucher. Im sogenannten Kabinett 3 sind Schnitte und Schattenrisse aus Zuckerrohr, Reisstroh und Pferdehaut zu sehen.

Der schnellste Papierschneider ist der in Düsseldorf beheimatete Franzose Jacques Maté, der in den 1980er Jahren in vielen Fernsehsendungen auftrat und Prominenz wie Willy Brandt oder Helmut Kohl verewigte. Sein Weltrekord von 485 Schnitten in drei Stunden fand Eingang ins Guinness-Buch 1982. Schon in den 1940er Jahren schuf der französische Impressionist Henri Matisse, ein Großmeister der Vereinfachung, eine ganze Reihe von bemerkenswerten Schnitten. Auch der frühromantische Maler Philipp Otto Runge aus Wolgast widmete sich mit Leidenschaft dem Scherenschnitt. Die Filmpionierin Lotte Reiniger verhalf dem Scherenschnitt zu ganz neuen Ehren. Sie drehte Filme wie „Prinz Achmed“ nur mit Scherenschnitten, eine der großen Leistungen der deutschen Filmgeschichte. Manch einem Leser kribbelt’s wahrscheinlich schon in den Scherenhänden.

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