© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Wunderheiler mit der Abrißbirne
Görlitz: Streit um geplantes Einkaufszentrum
Paul Leonhard

Das Widerstandsnest sitzt mitten auf der Brüderstraße in der Görlitzer Altstadt. Hier, zwischen Untermarkt und Obermarkt, befindet sich das Antiquariat von Frank Vater, und der formuliert am Computer seine Bedenken gegen gesichtslose und überproportionierte Einkaufscenter, wie sie zur Zeit in Bautzen, Zittau und Görlitz entstehen sollen. Vater, der an der TU Dresden zum Architekten ausgebildet wurde, interessiert sich insbesondere für Heinz Nettekoven. Der ist der Wunderheiler, dem der Görlitzer Oberbürgermeister und sein Wirtschaftsförderer zutrauen, den „entscheidenden Impuls zur Wiederbelebung eines verfallenen Innenstadtquartiers, zur Steigerung der Lebensqualität und Attraktivität“ auszulösen.

Görlitz, das als eine der schönsten Städte Deutschlands gilt, laufen seit 1990 die Einwohner weg. Zwar ist es gelungen, das architektonische Erbe zu erhalten, aber der Leerstand wird bedrohlich. Besonders trostlos sieht es auf der oberen Berliner Straße aus. Hier stehen einst prunkvolle Hotels, allerdings wurden sie in den neunziger Jahren von Spekulanten erworben und verrotten seitdem. Dabei ist die Berliner Straße die zentrale Fußgängermagistrale, die den Besucher vom Jugendstilbahnhof direkt zum Postplatz führt. Die leicht abschüssige Straße ist gesäumt von geschlossenen Häuserzeilen aus der Gründerzeit.

Für Investor Heinz Nettekoven der ideale Standort für eine Einkaufspassage mit 10.000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Der 84 Jahre alte gebürtige Rheinländer ist Geschäftsführer der in Weimar ansässigen Florana Grundstücksverwaltungs- und Immobilienverwertungs KG, die seit 1990 vor allem in Mitteldeutschland tätig ist. Die Görlitzer Stadträte lockt er mit 150 neuen Arbeitsplätzen.

Viele Görlitzer sind begeistert. Ja, so etwas wünschen sie sich: Sie träumen von hochwertigen Geschäften, kleinen Cafés, Galerien. Der Oberbürgermeister, der am 22. April wiedergewählt werden will, hofft auf Wählerstimmen. Sein Gegenkandidat hofft auch und findet das Projekt ebenfalls toll. Nur allmählich dringen besorgte Stimmen durch den Jubel. Es wird bekannt, daß für die 30-Millionen-Euro-Investition acht Denkmale, darunter ein prächtiges, mit Ornamenten geschmücktes Jugendstilhaus sowie ein komplett saniertes Gebäude, abgerissen werden sollen. Die ersten Bürger protestieren und erinnern an das benachbarte Jugendstilkaufhaus, das verfällt.

Städtebauliche Strukturen müßten gerade in einer Vorzeigestadt des städtebaulichen Denkmalschutzes erhalten bleiben, mahnt Professor Jürg Sulzer, der das in Görlitz von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz eingerichtete Institut für Revitalisierenden Städtebau leitet. Noch deutlicher wird Horst von Bassewitz, Vorstandschef der Denkmalstiftung. Der Flächenabriß sei „nicht akzeptabel“, heißt es in seinem Schreiben an den Oberbürgermeister. Die Neubauentwürfe seien langweilig, die Görlitzer Bewerbung als Unesco-Welterbe gefährdet.

Es ist die Ironie der Geschichte, daß sich Görlitz gerade mit seiner Gründerzeitsubstanz um diesen Titel bewirbt. Das Stadtoberhaupt wiegelt ab: „Das sind zwei Paar Schuhe, und sie sind getrennt zu behandeln.“ Der Wirtschaftsförderer sekundiert: „Eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Shopping-Center ist wahrscheinlich die größte Gefahr für eine erfolgreiche Bewerbung um den Welterbe-Titel.“ Auch der Chef der Industrie- und Handelskammer schlägt in diese Kerbe. Der Denkmalschutz sei der „Sargnagel der Stadtentwicklung“. Und Investor Nettekoven ist sich gewiß: „Leere Buden, die fast zusammenfallen, braucht kein Mensch.“ Der Welterbetitel spüle sowieso kein Geld in die Kassen.

Immerhin sind die Bürger alarmiert. Der Kampf um den Erhalt der steingewordenen Stadtgeschichte hat Tradition. Man weiß, daß der architektonische Schatz der einzige ist, mit dem Görlitz dauerhaft punkten kann. Schließlich gründen sich Bürgerinitiativen, und da lenkt der Investor ein. Neue Entwürfe sehen die Wiederherstellung nahezu der gesamten Fassadenstruktur vor. Der Stadtrat beschloß daraufhin im Januar die Eröffnung des Bauverfahrens, verordnet dem Vorhaben aber einen Gestaltungsbeirat, der die „Vereinbarkeit moderner Einzelhandelsarchitektur und gründerzeitlicher Bebauung“ überwachen soll. Der Baubeginn ist für Herbst geplant.

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