© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Vertreibung der „Gerufenen“
Christian Vollradt

Dicht drängten sich die Gäste in der vergangenen Woche in Berlin beim traditionellen Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen (BdV) vor das Rednerpult im geschichtsträchtigen  Kronprinzenpalais der Hohenzollern Unter den Linden. Hoher Besuch hatte sich angesagt, die Bundeskanzlerin höchstselbst erschien zum wiederholten Mal beim Treffen der Vertriebenenfunktionäre, und sie hatte weitere Prominenz im Schlepptau. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) genauso wie den Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU).

Zwei Stockwerke unter dem Festsaal  ist kurz zuvor die Ausstellungstrilogie „Heimatweh“ fertig aufgebaut worden, die noch bis zum 24. Juni dort besichtigt werden kann. Es ist die Zusammenfassung der drei, vom Zentrum gegen Vertreibungen konzipierten Ausstellungen „Die Gerufenen“, „Erzwungene Wege“ und „Angekommen“. Die Präsidentin des BdV, Erika Steinbach, hebt in ihrer Begrüßungsansprache die Bedeutung des Gedenkens an die Vertreibung und die Vertriebenen hervor, indem sie den gerade gewählten Bundespräsidenten Joachim Gauck zitiert.

Der hatte von der Notwendigkeit eines geschützten Raumes für das Verlorene gesprochen und es als nicht normal bezeichnet, wenn dies nicht im kollektiven Gedächtnis der Nachkommen aufbewahrt wäre. Auch wegen dieser Äußerung, sagte Steinbach unter dem Beifall der Anwesenden, habe sie Gauck in der Bundesversammlung ihre Stimme gegeben.

Bevor sie Angela Merkel die Gelegenheit zum Grußwort gibt, hebt die CDU-Bundestagsabgeordnete noch einmal die Verdienste der Kanzlerin im Kampf für ein „sichtbares Zeichen“ zur Erinnerung an die Vertriebenen hervor, dafür gebühre ihr Dank. Merkel spielt einige Augenblicke später den Ball zurück: „Ich hätte mich ohne ihr Engagement, liebe Erika Steinbach, ja gar nicht dafür einsetzen können ...“ So sprechen – unter dem Applaus ihrer Verbands- oder Parteibasis – politische Profis; Steinbach, die enttäuscht und entnervt angesichts des mangelnden Rückhalts in der Koalition ihren Anspruch auf einen Sitz im Stiftungsrat der Bundesvertriebenenstiftung aufgegeben hatte, genauso wie Merkel, die es nicht gestört hatte, daß beim Bundestagsbeschluß zum zwanzigjährigen Bestehen des deutsch-polnischen Freundschaftsabkommens die Vertriebenen zunächst überhaupt nicht erwähnt worden waren.

Und so nahm sich im kurzen Resümee der Bundeskanzlerin über jene Ausstellung, die sie vorab besichtigt hatte, der ganze Kontext der Vertreibung seltsam verkürzt aus. Sie bezog sich zu Beginn ihrer Rede nicht etwa auf Ostpreußen, Schlesier, Pommern, sondern auf die „Gerufenen“, Deutsche, die „auf der Suche nach einem besseren Leben, in ferne Länder“ gezogen seien, ins Baltikum, nach Böhmen und Bessarabien. Sollte Merkel entgangen sein, daß das Gros der deutschen Vertriebenen nicht aus fremden, sondern aus deutschen Ländern stammte, oder wollte die Kanzlerin noch einmal eine geschichtspolitische Duftmarke setzen?

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