© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der Verlauf der Berichterstattung über Mohammed Merah, den Attentäter, der in Südfrankreich zuerst drei Soldaten, danach vier Juden getötet hat, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: zuerst weil die These von der Hierarchie der Opfer erneut bestätigt wird. Der Mord an den Fallschirmjägern schien kaum der Rede wert. Nur die Tatsache, daß es sich um Einwanderer handelte, weckte ein gewisses Interesse, weil das die Möglichkeit bot, Vermutungen über einen rechtsextremistischen Hintergrund des Täters anzustellen. Als der franko-israelische Lehrer mit den drei Schülern getötet wurde, kam es dagegen sofort zu Massendemonstrationen, und die Staatsführung proklamierte einen „nationalen Tag der Trauer“. Natürlich hatte das auch mit der medialen Verankerung der üblichen Deutungskonzepte zu tun. Trotzdem gab es eine Irritation, als die Linke die Morde unmittelbar politisch nutzte und die „Lepenisierung“ des Präsidentschaftswahlkampfs als Ursache für die Morde ausmachte. Damit war auf die übliche Argumentation Bezug genommen, daß der Täter nichts anderes exekutiert habe, als das, was die xenophobe und latent rassistische Mitte der Gesellschaft insgeheim wünscht, die das multikulturelle Frankreich ablehnt. Jetzt, nachdem klar ist, daß der Täter ein maghrébin und Moslem war, wird umgekehrt alles getan, um ihn als Einzelgänger erscheinen zu lassen, ohne Bindungen, schon um jede Diskussion darüber zu verhindern, ob nicht eine xenophile und antipatriotische Elite wesentliche Verantwortung für die Morde trägt, die das multikulturelle Frankreich geschaffen hat, dessen Sozialisation Mohammed Merah durchlief.

„Es ist einigermaßen absurd, daß zu den gängigsten Redewendungen eines Zeitgeistes, der sich einem liberalen Weltbild verpflichtet fühlt, der Satz gehört: es gibt keine Wahl.“ (Konrad Paul Liessmann)

Noch zum Ende des Algerienkriegs: Es wird oft vergessen, wie stark die Kämpfe in den letzten Kolonien die Öffentlichkeit der fünfziger Jahre beschäftigten. Die Europäer agierten von Anfang an aus der Defensive. Das gute Gewissen derjenigen, die einst „des weißen Mannes Bürde“ (Rudyard Kipling) geschultert hatten, stand ihnen längst nicht mehr zu Gebote. Der Vergleich der willkürlichen Verhaftungen, Folterungen, Deportationen und Massaker mit den NS-Verbrechen war in der öffentlichen Debatte geläufig, wenn es um die „Polizeimaßnahmen“ von Franzosen, Briten oder Niederländern in Afrika und Asien ging, und hielt jedenfalls die Vorstellung von „Unvergleichbarkeit“ fern. Kaum jemand hätte begriffen, worin die Differenz bestehen sollte (François Mauriac, 1957: „Wenn es eine Wahrheit gibt, an der ich heute nicht mehr zweifle, so ist es die, daß es kein Volk gibt, das fürchterlicher als das andere ist – welches auch immer das Regime sei, dem es untertan ist.“). Man sollte die Feststellung des unlängst verstorbenen US-amerikanischen Historikers Peter Novick, daß die Deutschen anfangs in bezug auf die Vergangenheitsbewältigung geschont wurden, weil man sie als Verbündete gegen die Sowjetunion brauchte, um diesen Aspekt ergänzen.

Eine amerikanische Studie belegt ein erstaunliches Maß an Intoleranz der Liberalen, die „soziale Netzwerke“ nutzen: Sechzehn Prozent von ihnen – doppelt so viele wie Konservative – brechen den Kontakt mit Personen ab, die abweichende politische Vorstellungen äußern, elf Prozent – und damit dreimal so viele wie unter den Konservativen – wollen alle, die nicht mit ihren Vorstellungen einverstanden sind, von der Debatte ausgeschlossen wissen.

Nur das allgemeine Phlegma verhindert, daß das Fehlen von Manieren störender wirkt.

Bildungsbericht in loser Folge XX: In welchem Grad der Egalitarismus zum allgemein akzeptierten Dogma geworden ist, kann man daran erkennen, daß die neuen Verlautbarungen im „Chancenspiegel“ der Bertelsmann-Stiftung zur sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens vollkommen kritiklos hingenommen werden. Dabei wäre die gebetsmühlenartig wiederholte These, daß Arbeiter- und Migrantenkinder geringere Aussicht auf einen höheren Abschluß haben, doch zuerst daran zu prüfen, ob denn die Betroffenen überhaupt die nötigen Voraussetzungen mitbringen, um etwa das Abitur zu erwerben. Selbstverständlich geschieht das nicht, weil man dann den Gedanken denken müßte, daß die Intelligenz in den verschiedenen Bevölkerungsschichten und Volksgruppen (samt Anstrengungsbereitschaft und Leistungsvermögen) ungleich verteilt sein könnte. Eine Annahme, die nicht nur der Alltagsverstand oder die nachholende Lektüre Thilo Sarrazins nahelegt, sondern auch eine Menge empirischer Untersuchungen. Aber das scheint die Verabredung zur Ahnungslosigkeit nicht im mindesten zu stören.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 13. April in der JF-Ausgabe 16/12.

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