© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Die in der kalten Asche sitzen
In der Zone des Hirntods: Zur geistigen Lage des realexistierenden Liberalismus im „freiesten Deutschland, das es je gab“
Björn Schmidt

Sprachlich gewagt reden eingefleischte Bundesrepublikaner gern vom „freiesten Deutschland, das es je gab“. Wären sie historisch gebildet, müßten sie diesen Ruhmestitel freilich der Weimarer Republik und dem ihr kaum nachstehenden wilhelminischen Kaiserreich überlassen. Denn eine pluralistische Öffentlichkeit, eine wahrhaft bunte Presselandschaft, eine schier unüberschaubare Zeitschriftenflut, eine tropisch blühende Vereins- und eine Streitkultur, die diesen Namen verdient – die findet man im Deutschen Reich bis 1933, und selbst danach ist nicht sofort alles rückstandslos „gleichgeschaltet“ worden. 

Wenn der rhetorische Superlativ für die Berliner Republik unbedingt bemüht werden soll, dann beklage man das langweiligste Deutschland, das es je gab. Leben wir doch in der historisch singulären Ödnis „politischer Korrektheit“, die so offensichtlich wie penetrant von intellektueller Konformität und geistiger Auszehrung geprägt ist. Seit Monaten erzeugt diese Tristesse jedoch einen auffälligen Leidensdruck ausgerechnet bei einigen Exponenten jener linksliberalen Schickeria, die als ganz und gar nicht gütiger Hegemon diese Einheitskultur gezüchtet hat und sie nun zunehmend lustlos bewirtschaftet. So lamentierte der Berliner Zivilrechtler und Romancier Bernhard Schlink über den faden denunziatorischen 08/15-Moralismus seiner Studenten, denen in einem auf „Bewältigung“ getrimmten Schulunterricht nicht beigebracht worden sei, selbständig über die deutsche Vergangenheit zu denken und zu urteilen (JF 26/11).

Von ähnlichen Erfahrungen wie Schlink aufgeschreckt, aber nur ein dumpfes Unbehagen am Status quo artikulierend, trommelten die Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel im vorigen Herbst eine Schar „systemtreue Querdenker“ zusammen, um sie in einem dicken Sonderheft über „Nonkonformismus“ reflektieren zu lassen. Abgesehen davon, daß die meisten Beiträge den Eindruck verstärken, „offene Gesellschaft“ sei nur mehr eine Reklamefloskel, verschärfte allein der Heidelberger Altphilologe Jürgen Paul Schwindt Schlinks Kritik, wenn er die Totalisierung der Universitäten skizziert, die „grassierende Ideologisierung der Sprache“, die ihn an „autoritäre Systeme“ erinnert. Um dann resigniert festzustellen, dieser Prozeß der Uniformierung sei inzwischen so weit gediehen, daß die „Rekrutierung eines Nonkonformisten systembedingt nahezu ausgeschlossen ist“ (JF 42/11).

Der FAZ-Feuilletonist Jürgen Kaube, ebenfalls schon bei Bohrer und Scheel, hat nun einen zweiten, weniger verquasten Versuch zum Thema Nonkonformismus unternommen und im Leitaufsatz zur Leipziger Literaturbeilage seines Blattes (FAZ vom 10. März) sich einmal alles von der Seele geschrieben, was ihm beim „Strukturwandel des geistigen Lebens“ auf den Senkel geht. Kaube vergleicht den wissenschaftlichen Buchmarkt der 1960er mit der aktuellen Produktion. Zwischen 1962 und 1966 hätten Claude Lévi-Strauss, Thomas S. Kuhn, Theodor W. Adorno, Carl Schmitt, Leo Strauss, Peter Szondi, Hans Blumenberg, Niklas Luhmann, Noam Chomsky, Michel Foucault und viele andere ihre „klassisch“ gewordenen Werke publiziert, während heute der begabte Nachwuchs in einem Milieu sozialisiert werde, „das keine Prämien mehr für Texte kennt, die sich ernsthaft einer Diskussion stellen. Weil es gar keine Diskussionen mehr gibt.“ Deshalb sei auch das bundesdeutsche Rezensionswesen in den meisten Disziplinen inzwischen „ein Witz“. In den Sammelbänden werde gedruckt, „was eingereicht wurde“, Zeitschriften-Redakteure wählen Aufsätze nach dem Prinzip „Mülltrennung oder Notaufnahme“ aus, und auf wissenschaftlichen Tagungen warte man vergeblich auf „Widerspruch“. Ohne „Exzellenz-Cluster“ und das ganze Gedöns, ohne Drittmittel und „ohne viel Anschubfinanzierung“ sei früher unterm Strich intellektuell einfach „mehr los gewesen“.

Bleibt Kaube noch in der vorsichtigen Beschreibung des Phänomens stecken, fragt der Bremer Zivilrechtler Andreas Fischer-Lescano in den linken Blättern für deutsche und internationale Politik (3-2012) wenigstens ansatzweise nach den Ursachen. Marxistisch geschult, entdeckt er schnell den Würgegriff der Wirtschaft, den die Universitäten spätestens seit Beginn der „Bologna-Reform“ zu spüren bekämen. Vor allem die rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Institute lägen als „Kadettenanstalten der Finanzmärkte“ danieder. Eine derartige Symbiose zwischen „angewandter Forschung“ und polit-ökonomischer „Praxis“ sei von jeher üblich, aber verglichen mit der pluralistischen Weimarer und frühen Bonner Republik, die „Refugien widerständiger Wissenschaftspraxis“ auszeichneten, sei die gegenwärtige „Kultur der Kumpanei“ wirklich „grundlegend neu“.

Ebenso sind dies die von Kaube angeprangerten Epiphänomene, unter denen Fischer-Lescano die jede Wissenschaft verderbenden „Auftragsexpertisen“ lieber Kollegen aus dem Völker- und Wirtschaftsrecht ähnlich sauer aufstoßen wie die „Etablierung des Reflexionsstopps“ gerade im Rezensionswesen, wo kritische Besprechungen nur noch unter Pseudonym veröffentlicht würden, „um die eigene Karriere nicht zu gefährden“. Da der „kritische Jurist“ Fischer-Lescano aber glaubt, die Misere resultiere aus dem unvollendeten 68er-Projekt, die Total-Liberalisierung nicht auf die Wirtschaft auszudehnen, sondern sie an die sozialistische Kandare zu nehmen, fragt er nicht, ob die unumschränkt herrschenden weltanschaulichen Orientierungen seiner Alterskohorte langfristig überhaupt kulturfähig sind. Oder ob diese nicht, wie mit Ernst-Wolfgang Böckenförde zu mutmaßen ist, von Voraussetzungen zehren, die sie selbst nicht generieren können. So ist denn zu befürchten, daß in der Zone des Hirntods, die Kaube und Fischer-Lescano erkunden, auch die letzten Stümpfe des alten Deutschland von denen noch zu Kleinholz verarbeitet werden, die längst „in der kalten Asche sitzen“ (Rudolf Borchardt).

Foto: Kind muß ganz alleine am Strand spielen: Die „offene Gesellschaft“ ist nur mehr eine Reklamefloskel

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