© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Grenzenlose Euphorie
Piratenpartei: Angesichts des neuerlichen Erfolges der Politikneulinge gehen die etablierten Parteien zum Gegenangriff über
Michael Martin

Es ist wohl doch keine Eintagsfliege: Der Aufstieg der Piratenpartei setzt sich fort. Wenige Wochen nach ihrem Erfolg bei der Landtagswahl im Saarland (7,4 Prozent) kletterte der Aufsteiger der Politik in einer Umfrage für das Politbarometer auf neun Prozent. Der Einzug in die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, wo im Mai gewählt wird, gilt als sicher. Die etablierten Parteien sind sich derweil unsicher, wie sie mit dem Erfolg der Formation umgehen sollen. Christian Lindner, Spitzenkandidat der krisengeschüttelten FDP in Nordrhein-Westfalen, blies schon mal zur Attacke: „Ich nehme die Piraten als Formation nicht sehr ernst, weil viele Programminhalte der Partei ja nur vage sind oder inakzeptabel sind. So wäre etwa die Aufhebung des geistigen Eigentums die kulturelle Verarmung unserer Gesellschaft.“

Die Wähler der Piratenpartei nehme er jedoch sehr wohl ernst. „Die Piraten stehen für den Wunsch der Bürger nach Transparenz“, so Lindner weiter. „Die Botschaft ist bei uns angekommen“, sagte der ehemalige Generalsekretär der ARD. Die Wählerschaft der neuen Partei ist jedenfalls ziemlich heterogen: Das Bild des klassischen Computerfreaks greift spätestens seit dem Wahlerfolg im Saarland zu kurz. Neben jungen Erstwählern stimmten an der Saar auch Wähler aus anderen Altersgruppen für die Piraten. „Nicht nur von Technikbegeisterten, sondern aus allen Schichten der Bevölkerung kamen Stimmen für die Piraten zusammen“, sagt der Parteienforscher Carsten Koschmieder von der FU Berlin. Vor allem Unzufriedene, die mit den etablierten Parteien nichts mehr anfangen können, gaben ihnen ihre Stimme. Nur ein Bruchteil der Wähler entschied sich für die Piraten, weil ihnen das Internet so am Herzen liegt. „Was die Piraten stark macht, sind nicht ihre Inhalte, sondern daß sie neu und anders sind“, sagte Koschmieder der Frankfurter Rundschau. Experten gegen davon aus, daß die Piraten im kommenden Jahr in den Bundestag einziehen könnten. Spätestens dann müßten sie allerdings Farbe bekennen. Denn während des Landtagswahlkampfes im Saarland bekannten mehrere Spitzen-Piraten, daß sie noch kein ausgefeiltes Programm für alle Politikfelder hätten. Doch glaubt man Koschmieder, brauche die Partei momentan auch überhaupt kein starkes Programm oder charismatische Persönlichkeiten, um erfolgreich zu sein.

In Berlin zog eine ziemliche bunte Truppe ins Abgeordnetenhaus ein, im Saarland scheinen die Parlamentarier etwas bürgerlicher zu sein, abgesehen von der erst 22 Jahre alte Spitzenkandidatin Jasmin Maurer, die am Wahlabend einen Kreislaufkollaps erlitt und im Internet unter dem Pseudonym „Blutdrache“ aktiv ist. Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber äußerte sich bereits skeptisch über die neue Fraktion an der Saar: „Ich gehe davon aus, daß die vier Abgeordneten auch einen ‘Kulturschock Parlament’ erleben werden, ähnlich wie bei den Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus. Ich denke aber nicht, daß es wie in Berlin zu starken Reibereien innerhalb der Gruppe kommen wird. Bei vier Personen schweißt ein solcher Schock eher zusammen“, sagte er der Welt.

In diesen Tagen der Euphorie mehren sich die kritischen Stimmen. Der Mangel an qualifiziertem Führungspersonal wird ebenso beklagt wie eine inhaltliche Leere. Peinlich der Auftritt von Saar-Pirat Michael Hilberer am Wahlabend, als er seine eigene Konzeptlosigkeit als neuen Politikstil anpries: „Freunde, aber auch fernstehend Interessierte behandeln die Piraten wie Kinder, die man nicht hart anpacken darf, anstatt sich darüber zu empören, mit welcher Ignoranz und Schlichtheit diese Partei sich ans politische Handwerk macht“, kommentierte die Welt schließlich und legte nach: „Würde Hilberer so aussehen wie Patrick Döring und dieselbe Tonspur abliefern, man hätte ihn auf dem Marktplatz der Meinungen umgehend zum Schafott gejagt.“ Aber weil der vergleichsweise juvenile Mann Teil einer Partei ist, die vom Meinungsmainstream als die neue Stimme von Jugend und Weltgeist gefeiert wird, gibt es kaum Widerspruch.

Interessant auch, daß viele Piraten öffentlich über die Belastung des politischen Alltags klagen. In Berlin verriet ein Abgeordneter, daß er „seelisch am Ende“ sei, im Saarland brach Spitzenkandidatin Maurer am Wahlabend zusammen. Und Marina Weisband, politische Geschäftsführerin und „Gesicht“ der Partei, verkündete mit 24 Jahren schon den Rückzug aus der aktiven Politik: „Mir wird das alles zuviel.“ Der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz (28) tingelt in diesen Tagen von Talkshow zu Talkshow. Er kommt sympathisch rüber, manche sagen, er versprühe eine Spur Arroganz. „Die Piraten müssen natürlich aufpassen, daß sie nicht weiter einen politischen Gemischtwaren-laden anbieten. Das kann auf Wähler wirr und chaotisch wirken“, sagt Politikwissen-schaftler Bieber und stellt die Frage, wann die etablierten Parteien aufhören, die Neulinge mit Samthandschuhen anzufassen.

Foto: Transparent auf dem Piraten-Parteitag in Münster: Bunte Truppe im Saarland und in Berlin

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